In unserer neuen Kategorie urbanoGUIDE möchten wir “die besonderen Orte, Geschichten und Gefühle, die man in Städten findet, zu sammeln.” Für den ersten Beitrag in dieser Kategorie konnten wir Dipl.-Ing. Dirk Weiß gewinnen, der bei der CIM/GTZ als “Expert for Geographical Information Systems and Planning” im Jemen arbeitet. In seinem Beitrag berichtet er über das städtische Leben in Sanaa in der Regenzeit.

Foto: Dirk Weiß

Es ist bereits Mittag, die Sonne steht hoch am Firmament. Hastig treibt es die Männer durch die überfüllten Straßen und engen Gassen der Stadt. Schnell noch kaufen sie kleine Bündel aus grünen Blättern und Zweigen. Es handelt sich um Kat, dem jemenitischen „Genussmittel“ erster Wahl und einer wichtigen Säule ihrer einzigartigen Kultur. Mit der kostbaren Ware unter dem Arm strebt ein jeder zu Freunden, um dort in extra Zimmern mit Matratzen, Kissen und niedrigen Fenstern, die Mafradj genannt werden, gemeinsam die Blätter zu kauen. Nicht wenige haben ein kunstvolles Mafradj (so etwas wie das jemenitische Wohnzimmer) auf dem Dach ihres Hauses. Von dort fällt ihr Blick durch die kleinen Fenster über ein Meer aus Minaretten, Moscheen und Häuserschluchten, das sich bis an die Bergketten am Horizont erstreckt. Kaum ein Baum ist auf der weiten Hochebene zu sehen, nur kahler, ockerfarbener, staubiger Boden und nackte Felsenriffe, die sich bis über 3000m aufschwingen. Von diesen Bergen versteckt und umschlossen liegt sie da: Sanaa, die Hauptstadt des Jemens, sagenumwobene Perle Arabiens.

Der trockene Horizont

Erst angeregt und später entspannt diskutieren die Männer in ihren Mafradjs über Allah und die Welt und oft über das Wasser und den Regen, von dem es so wenig gibt. Im milden Winter bleibt ihnen meist nicht mehr als bloße Erinnerung an Wolken, die sie sehnsüchtig am makellos blauen Himmel zu erspähen hoffen. Wenn sie dann schlafen gehen, trübt nichts den Blick auf die unzähligen Sterne. Keine Wolke, kein Regentropfen stört das Märchen aus Tausendundeiner Nacht.

Doch die Menschen auf den Dächern der Stadt wissen, auch die längste Trockenzeit kann nicht ewig dauern. Schon bald beginnt ein verborgenes Ringen hinter dem Horizont. Weit unten am Meer steigt Feuchtigkeit auf. Die ersten Wolken bilden sich. Sie formieren sich zu Gruppen, um mutig den Aufstieg über die 3000m hohen Berge zu wagen. Noch wochenlang werden sie vom mächtigen Schutzwall der verborgen Stadt abgewehrt. Doch zahlreicher und geschickter werdend, kämpfen sie sich ihren Weg immer weiter hinauf, bis sie schließlich auf den weiten lehmbraunen Häuserteppich blicken.

Jetzt werden die Menschen aufgeregter und diskutieren wann es mehr Wolken werden und die ersten Tropfen fallen. Aber noch ist es nicht so weit. Selbst wenn bedrohlich dunkle Wolkenschichten das Licht der untergehenden Sonne mystisch streuen, kann derjenige sehr schnell eine Wette verlieren, der meint, heute wäre es soweit. Und so gehen das Spiel der Wolken und das Fragen und das Raten der Menschen weiter, bis schließlich dann doch der erste Tropfen fällt.

Fotos: Dirk Weiß

Endlich

Nach langem Warten geht ein Aufatmen durch die Stadt. Nun, von den zahllos fallenden Regentropfen verzaubert, bleibt vielerorts die Arbeit liegen. Stühle werden rasch unter Dächer getragen, um dann entzückt und zufrieden hineinzusinken – das Schauspiel genießend. Die Menschen lächeln sich zufrieden an und wiederholen oft: „Schaut, ist das nicht schön!“. Geruch von Staub dringt in ihre Nasen. Lange blieb er am Boden liegen und wird nun durch die ersten Spritzer aufgewirbelt. Minute für Minute verändert sich die Stadt. Die Straßen werden dunkelschwarz bis sich schließlich die ersten Rinnsale bilden und vom dichter werdenden Regen gespeist werden.

Lange musste der Regen für seine Ankunft kämpfen und will nun bleiben. Täglich wird er mehr und fängt früher an. Gewittergrollen gesellt sich hinzu und Blitze durchzucken den Himmel, der inzwischen so braun und dunkel wie die Berge und Lehmhäuser ist. Sanaa wird nun von den Wassermassen überfordert. Immer dichter werdend, die Berge längst verdeckend, ergießen sich Unmenge an Wasser über die Stadt. Schon schießt es in breiten Bächen durch die Gassen. Die Gelegenheit nutzend, öffnen sich dann die Haustüren und Müll und Unrat werden in die kleinen Flüsse geworfen. Das so entstandene milchigbraune Gemisch schwillt an und bahnt sich seinen Weg durch die Stadt.

Fotos: Dirk Weiß

Wer jetzt keine guten Gummistiefel hat, geht entweder gleich barfuß oder in seinen jemenitischen Sandalen. Nass werden die Füße so oder so, es gilt nur noch, die guten Schuhe zu schonen. Deshalb sieht man die Menschen mehr lässig durch die Fluten waten als balancierend von Insel zu Insel springend. Oft folgen sie dem Strom zum Zailer, dem großen Wadi, das einem Kanal gleich durch die gesamte Stadt verläuft und alle Fluten sammelt. Von den Brücken schauen sie dann zu wie Kinder ihre große Freude habe und neckisch vor dem hoch aufspritzenden Wasser der Autos davon springen.

Fotos: Dirk Weiß

Canale Grande

Der Zailer ist auch eine der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt. Kein Wunder also, dass der Regen auch gefürchtet wird. Ab und zu führt sich das Unwetter auf wie ein Dschinn, der aus der Flasche gelassen wurde und sich nun austobt. Wer dann im Auto unterwegs ist, fühlt sich bald wie ein Kapitän und hofft, dass er nicht zur Titanic gehört. Bereits viele Parallel- und Seitenstraßen verwandeln sich schnell in kleine Flüsse, die man durchaus mit einem Schlauboot oder Kajak befahren könnte. Die Schlaglöcher und Untiefen im kniehohen Wasser sind jedoch auf keiner Karte verzeichnet, so dass die die Bootsfahrt ein kleines Abenteuer wird. Das größte Abenteuer aber wartet auf den, der direkt im Zailer fährt.

Dort kann es gefährlich werden. Mutig schieben sich die Autos den von Minute zu Minute steigenden Wassermassen entgegen. Das Gaspedal ist tief eingedrückt, doch schneller als ein Boot kommt keiner mehr voran. Mit dem Wasserpegel steigt auch der Grad der Unsicherheit. Sollen sie jetzt lieber herausfahren oder schaffen sie es doch noch bis zum Ziel? Keiner kann es genau wissen, denn schnell ist die Zündung defekt oder Wasser in den Vergaser gelangt. Wer sich verspielt hat, bleibt mit seinem Auto liegen. Steigt der Wasserpegel weiter, wird der Wagen schließlich fortgerissen.

Jetzt teilt ein reißender Strom die Stadt in zwei Hälften. Der Verkehr kommt fast vollständig zum erliegen. Das sonst so geschäftige Leben verstummt und weicht einer kleinen staunenden Menschenmenge oder vereinzelten Wagemutigen, die unter Applaus im Zailer von Ausfahrt zu Ausfahrt schwimmen. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn im braunen Wasser warten Müll, Kühlschränke, Autos, Brückenpfeiler und die Betonblöcke der Fahrbahnmitte als Hindernisse.

Fotos: Horst Schlüpmann

So schön das Schauspiel ist, richtig schwimmen können im Jemen nur wenige. Das letzte ungewöhnlich große Unwetter forderte zwölf Menschenleben und hat mehr als zehn Autos teilweise mit Insassen fortgerissen. Ein Lehmhaus ist zusammengestürzt und begrub die Bewohner. Mehrere Tonnen Schlamm, Sand, Geröll und Müll wurden durch die Stadt bewegt.

Fotos: Najla Alshami

Nach der Flut ist vor der Flut

Scheint schließlich wieder die Sonne, werden die Folgen der der Regenfälle sichtbar. Der Zailer ist im Stadtzentrum überall sauber gepflastert, gleicht nach einem sehr großen Unwetter aber mehr einem Fluss mit Sandbänken, Geröllhaufen und gestauten Teichen. Die Straßenfeger haben dann über Tage hinweg viel zu tun.

Außerhalb des Stadtzentrums gibt es keine Pflasterung oder fein verfugte Seitenwände. Stattdessen einen vom Wasser in das Erdreich gefrästen Kanal mit vielen bunten Steinen, die sich bei näherer Betrachtung als Plastiktüten, Konserven und anderen Hausmüll entpuppen. Manchmal ist auch ein Kühlschrank oder Auto dabei, doch so etwas bleibt nicht lange liegen. Den Müll wird die nächste Flut weitertragen, um die Seitenwände muss sich aber gekümmert werden. Die Bauschutthaufen auf den Seitenrändern werden deshalb bei Bedarf ein Stück weiter über die Kante geschoben und durch neue ersetzt. Genauso hastig verfährt man mit den vielen neuen Schlaglöschern und Gräben, die sich in den Straßen auftun: Bauschutt hineinfüllen, von den Jeeps festfahren lassen und fertig. Das nächste Unwetter kann kommen.

Schließlich verlieren die Wolken nach Wochen wieder ihre Kraft und schaffen den Aufstieg über die Berge nicht mehr. Der Himmel ist wieder strahlendblau und nachts die Sterne so zahllos wie zuvor. Die Landschaft hat sich verwandelt. Alles ist grün. Das Gras sprießt überall. Noch einige Wochen später legt sich langsam erneut ein ockerfarbener Schleier aus braunem Staub über die Stadt. Die Männer sind daran gewöhnt und sitzen zufrieden mit dicken Backen hoch über der Stadt. Man wird sich schnell einig: So viel Wasser ist immer gut für den Jemen. Später, wenn die angeregten Diskussionen einer zufriedenen Entspanntheit weichen, geht ihr Blick wieder sehnsüchtig in den blauen Himmel, auf der Suche nach den Wolken.