Ralf Schüler posiert vor dem Bierpinsel im Jahr 1978 (Foto: LUI)

»Mit Volldampf gegen die Norm« – der Artikel im Männermagazin LUI (deutsche Ausgabe; Heft 11/1978) von Marianne Schmidt portraitierte den Berliner Architekten Ralf Schüler im Jahr 1978 zu einer Zeit, als er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ursulina Schüler-Witte auf dem Weg schien, ein internationaler Stararchitekt zu werden. Das nahezu 1 Mrd. DM teuere Internationale Congress Centrum Berlin (ICC) stand kurz vor seiner Fertigstellung und sollte als eines der besten Kongresszentren der Welt Vorbild für zahllose weitere Gebäude dieser Art werden.
Doch es kam anders. Anstelle weiterer Großprojekte folgten Umbauten und Sanierungen und der Name Schüler geriet zunehmend in Vergessenheit.
Zu seinem heutigen 80. Geburtstag erscheint auf urbanophil.net die Fortsetzung der Lebensgeschichte von einem der bedeutendsten und doch unbeachtetsten Architekten Berlins.

Ralf Schüler, geboren am 26. Oktober 1930 in Berlin-Pankow, hat im Laufe seiner Karriere immer wieder angeeckt. Bis heute kokettiert er gerne damit. Insbesondere nach der Fertigstellung des ICC hatte er es zunehmend schwer in der Berliner Bauszene dem eigenen Anspruch angemessene Projekte zu erhalten.
Doch nicht immer hatte Schüler derartige Schwierigkeiten. Denn seine Karriere begann mit freundlicher Unterstützung vom damaligen Bausenator Schwedler, der ihm und seiner späteren Ehefrau Ursulina 1967 den Auftrag für die Gestaltung des U-Bahnhofs Schloßstraße per Direktvergabe überließ.
Ralf Schüler studierte ab 1953 Architektur an der TU Berlin wo er neben Hans Scharoun insbesondere unter Bernhard Hermkes lernte. Dieser holte ihn und Ursulina in sein privates Architekturbüro, mit dem er 1955 den Wettbewerb zur Umgestaltung des Ernst-Reuter-Platzes und die Gestaltung des Osram-Gebäudes und der Architekturfakultät der TU Berlin gewonnen hatte. Ralf Schüler wurde so praktischer Urheber des Architekturgebäudes der TU Berlin (“Hermkes-Bau”) und konnte seine Fähigkeiten als Architekt – insbesondere im Bereich der Betonschalung und der Haustechnik – vervollständigen.

Ernst-Reuter-Platz 1966 (© TU Berlin)

Ernst-Reuter-Platz 1966 (© TU Berlin)

Dies veranlasste Schüler sein Studium abzubrechen, schließlich hätte “der Scharoun auch kein Diplom und trotzdem die Philharmonie gebaut.” Ursulina hingegen absolvierte ihr Studium 1966, so dass beide gemeinsam 1967 ihre Architektengemeinschaft gründen konnten.
Den Auftrag für den U-Bahnhof Schloßstraße erweiterten die beiden ungefragt kurzerhand auf die Kopfbauten, den Fly-Over und das städtebauliche Umfeld. Und da sich der U-Bahnhof an einem Konvergenzpunkt von zwei U-Bahnlinien, einer Einkaufsstraße und einer Autobahn befinden sollte, entwickelten sie die Idee, diesen Verkehrsknoten architektonisch zu betonen. Zunächst sollte es eine monolithische Skulptur sein. Als sich dafür kein Geld auftreiben ließ, wurde aus der Skulptur ein Turmbauwerk mit Nutzgeschossen für Gastronomie oder Einzelhandel. Es war die Zeit des Baubooms in Berlin, der Westdeutschen Spekulanten und des Filzes. Und so fanden sich zwei windige Spekulanten aus Paderborn, die als Investor in das Bierpinsel-Projekt einstiegen. Nach eine Vielzahl an Entwürfen für den Turm – mittlerweile auch offiziell für den Fly-Over, der vom Bierpinsel vertikal mit dem U-Bahnhof verbunden wurde – erfolgte 1972 der Baubeginn, um nur ein Jahr später wieder eingestellt zu werden. Die Spekultanten waren abgesprungen und so wurde der Bierpinsel bis 1974 zur Bauruine – in prominenter Nachbarschaft zur Bauruine des Steglitzer Kreisels, bei dem die Architektin Sigrid Kressmann-Zschach unter erheblichem Betrugsverdacht stand (Der Spiegel von 1973, Die Zeit von 1974). Dies war bei Schüler/Schüler-Witte nicht der Fall und dennoch war die Übernahme des Projektes durch die landeseigene BEWOGE (und damit der Einsatz von ca. 9 Mio. DM Steuergeldern) nicht gerade die Art von Projektverlauf, die sich die jungen Architekten für ihr erstes oberirdisches Bauwerk gewünscht hatten.
Und dennoch: Der Bierpinsel war zweifelsohne stilprägend für das Frühwerk (und somit Hauptwerk) von Schüler/Schüler-Witte: Die Betonung des Technischen, wie das Tragwerk oder die Haustechnik, lässt sich in noch weiter gesteigerter Form beim ICC beobachten. Auch der Einsatz großer Sichtbetonflächen und die Verwendung neuer Materialien wie Hostalit, Eternit oder Aluminium findet sich beiden Projekten.

Das Internationale Congress Centrum Berlin

Den Wettbewerb für das ICC konnten Schüler/Schüler-Witte 1966 für sich entscheiden. Das Modell für ihren Wettbewerbsbeitrag fuhr Ralf Schüler auf das Dach seines Citroen 2CV geschnallt noch im letzten Moment vor Ablauf der Deadline zum Abgabeort. Der Entwurf überzeugte und so wurde aus dem 20-Personenbüro ein 120-Personenbüro.

»Bedenkt man, dass Architekten laut Gebührenordnung etwa 10 Prozent der Bausumme als Honorar zustehen, wird klar, dass bei Schüler-Wittes Schmalhans nicht länger Küchenmeister war.«
Schmidt (1978): Mit Volldampf gegen die Norm. In: LUI, 11/1978, S. 24.

Das ICC mit seinen Ausmaßen von 320 m L x 80 m B x 40 m H ist das Hauptwerk von Schüler/Schüler-Witte (Der Spiegel von 1979). Eine Vielzahl technischer Innovationen erdachten die Architekten, so die Haus-in-Hauskonstruktion, um den Lärm der Autobahn nicht in das Gebäude dringen zu lassen (Video zum Bau). Es gibt Säle mit den Kapazitäten von 20 bis 5.000 Personen. Die beiden Hauptsäle lassen sich zu einem einzigen Raum öffnen, der mit seiner Bühne im Zentrum, Platz für 9.000 Personen bietet. Die Brücke, die das ICC mit dem Messegelände verbindet, kann von schweren LKW befahren werden. Im Innern entstand ein Farbleitsystem und Schüler/Schüler-Witte entwickelten den “Berliner Kongressstuhl”, der pro Stück 20.000 DM kostete. Bis heute wird das ICC von Kritikern als eines der besten Kongressgebäude gelobt.
Doch anstatt Jubel kam für die beiden Architekten die Ernüchterung. Der Zeitgeschmack hatte sich zwischen Wettbewerb und Baufertigstellung 1979 grundlegend gewandelt. Und so wurde der “Kongressdampfer” nun als zu groß und zu technisch empfunden.

Und so folgte für Schüler/Schüler-Witte nicht der internationale Durchbruch. Nach dem ICC folgten keine vergleichbaren Projekte. Zwar gestalteten sie noch eine Vielzahl an Projekten (z. B. das Ägyptische Museum in Charlottenburg und einige Brücken), doch vieles waren Sanierungs- und Modernisierungsprojekte. Trotz der Frustration darüber, die bis heute Ralf Schüler anzumerken ist, entwarfen und konzipierten die beiden Architekten immer wieder auch auf eigene Faust – ganz wie bei ihrem Erstlingswerk, dem Bierpinsel. So gestalteten sie 1987 das Rosa-Luxemburg-Mahnmal im Berliner Tiergarten und ließen es auf eigene Kosten her- und aufstellen. Und im für Außenstehende scheinbaren Widerspruch folgte 1992 ein umfassendes Gutachten mit Entwürfen für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Doch mit dieser Idee waren sie ihrer Zeit voraus – so weit voraus, dass ihr Konzept nicht beachtet wurde. Womöglich, weil mittlerweile Hans Stimmann, ein leidenschaftlicher Gegner der Großprojekte der 1970er Jahre, Senatsbaudirektor war. Am Wiederaufbau-Wettbewerb von 2008, den Frank Stella gewonnen hat, beteiligten sich Schüler/Schüler-Witte nicht.

Und so werden die beiden Architekten wohl für den Bierpinsel und das ICC in Erinnerung bleiben. Doch womöglich ist das Kapitel ICC für die beiden noch nicht ganz abgeschlossen: Im Dezember 2010 wird die gerichtliche Entscheidung erwartet, ob Schüler/Schüler-Witte als Urheber des Gebäudes für die Sanierung des ICC beauftragt werden müssen. So könnte es also unter Umständen noch ein weiteres Großprojekte in der Vitae der beiden geben. Denn die Sanierung des ICC wird ein ebensolches werden.

Zuletzt hat Ralf Schüler gemeinsam mit seiner Frau Ursulina das gesamte Werk – auch die ungebauten Projekte wie die Bandstadt über der AVUS oder den BASF-Indapt-Plastikhäusern – in Form von Zeichnungen, Montagen, Fotografien und Modellen inventarisiert und als Vorlass an die Berlinischen Galerie gegeben. Und sie arbeiten an einem Buch über ihr Werk.
Auf das Buch ist urbanophil.net gespannt und wünscht Ralf Schüler alles Gute zum Geburtstag!

urbanophil.net hat seit einiger Zeit einen thematischen Fokus auf Architektur und Städtebau der 1970er Jahre gelegt. In diesem Zusammenhang veranstaltete urbanophil.net im April und Mai 2010 die Reihe »Schonungslos Retro – urbanophil im Bierpinsel« mit Filmabenden und einer Podiumsdiskussion zu Fragen der Inwertsetzung, Denkmalpflege und Zukunft von Bauwerken dieser Epoche.