Von Verena Pfeiffer und Lukas Foljanty

Letzten Montagabend beschäftigten sich die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg mit dem wachsenden Tourismus in ihrem Bezirk. „Hilfe, die Touris kommen!“ war der Titel der Veranstaltung, der, rund ums Schlesische Tor plakatiert, für Aufsehen sorgte und Echo in allen Berliner Zeitungen und sogar bei Radio Eins fand.

Über was berichtet wird, ist aber weder neu noch überraschend: die Realitäten eines anwachsenden Tourismus in den Berliner Kiezen stehen derzeit bei vielen Akteuren im Fokus. Und leider werden oft eher einseitig aus individuellen Betroffenheiten mehr oder minder bedrohliche Zukunftsszenarien gemalt. An einer wissenschaftlich fundierten, und damit sachlichen und abwägenden Debatte, die die positiven und negativen Wirkungen beleuchtet aber fehlt es noch weitestgehend. Dies zeigt sich auch darin, dass es kein beispielhaftes Modell für die derzeit zu beobachtenden Entwicklungen gibt und daher die Debatte immer wieder mit den Gentrifizierungsdebatten vermengt wird, was weder der Tourismus- noch der Gentrifizierungsdebatte gut tut.

Was sich am Schlesischen Tor vollzieht, ist die bilderbuchartige Ausprägung eines Prozesses, den wir als Autoren dieses Artikels Touristifizierung nennen. Dieser Begriff bezeichnet ein deskriptives Phasenmodell der Stadtteilentwicklung, das bewusst an dem wissenschaftlich bereits etablierten Begriff der Gentrifizierung orientiert ist. Bereits vor einigen Jahren haben wir die Entwicklungen in Kreuzberg und der Spandauer Vorstadt in Mitte beobachtet und festgestellt, dass touristische Kieze immer wieder nach einem bestimmten Muster entstehen – ähnlich wie die Gentrifizierungsthese, bei der auch Phasen modellhaft aufeinander folgen.

Im Rahmen unserer Beobachtungen zeichneten wir einen prototypischen Verlauf der Touristifizierung auf. In das daraus entstandene Modell sind die positiven Aspekte des Tourismus ebenso einbezogen wie die Folgen, die zu Lasten des sozioökonomischen Gleichgewichts eines Bezirks gehen. Es ging uns um ein begriffliches und konzeptionelles Rahmenwerk, das dabei hilft, der notwendigen Diskussion eine Orientierung zu geben und die Vielseitigkeit und die Widersprüchlichkeiten der mit der Touristifizierung einhergehenden Aspekte zu berücksichtigen. Das wollen wir auch heute noch und stellen hiermit unser Phasenmodell „Touristifizierung“ in die Öffentlichkeit, wohlwissend, dass wir damit keine allumfassende und richtige Erklärung und schon gar keine Lösung liefern. Im besten Fall kann ein reflektionsbasierter, ergebnisoffener und lösungsorientierter Diskurs angestoßen werden, in dem Möglichkeiten gefunden werden, die aus dem Tourismus entstehenden Chancen zu nutzen und gleichzeitig seine Sozialverträglichkeit zu gewährleisten. Hier möchten wir uns mit unserem Beitrag positionieren.

Touristifizierung als deskriptives Modell in vier Phasen

Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung verschiedener eigener Artikel von 2006.

In Internetreiseforen wird der Begriff „touristifiziert“ für Orte benutzt, die von Touristen überlaufen sind. Immer häufiger handelt es sich bei den beschriebenen Orten nicht um klassische Sehenswürdigkeiten, sondern um Stadtquartiere, an denen das lokal Authentische, ihre Atmosphäre, ihr Image als Produkt im Tourismuswettbewerb platziert wurden. Wir sehen in dem Begriff Touristifizierung vor allem den dazu führenden  Entwicklungsprozess gespiegelt. Die Analogie zur Gentrifizierung macht klar, dass es sich um einen Aufwertungsprozess handelt, wobei die Entwicklungsparameter im Fall der Gentrifizierung neue Bewohnergruppen, bei der Touristifizierzung Stadtbesucher sind. Die Ergebnisse der Prozesse sind daher andere: Am Ende der Touristifizierung steht der Nutzungswandel eines Gebiets, bei dem die Verdrängung der Bewohner nicht in erster Linie durch neue Bewohner, sondern durch andere Nutzungen erfolgt. Zudem ist die Verdrängung der Funktion Wohnen durch Gewerbe in Form von Hotels, Gastronomie, Vergnügungsstätten und filialisiertem Einzelhandel wesentlich. Es vollzieht sich also eine Schwerpunktverlagerung städtischer Nutzungen im Quartier zulasten einer ausbalancierten, lebendigen und urbanen Nutzungsmischung und dem innerstädtischen Wohnen und zugunsten eines monostrukturierten Angebots.

Im Folgenden wird der Prozess in vier Phasen beschrieben, wie wir ihn 2006 in der Spandauer Vorstadt beobachtet haben: Die heutige Ausprägung war damalsnoch nicht unbedingt absehbar, aber erahnbar: Pub Crawls, Vandalismus, Alkoholexzesse rund um den Monbijoupark. Ebenso die negativen Folgen für die Berliner: im letzten Herbst haben die Staatlichen Museen Preußischer Kunstbesitz den freien Antritt an Donnerstagen nach sechs Uhr abgeschafft, mit der Begründung, dass zu viele Touristen dieses Angebot nutzen würden. Statt einen Schritt weiter zu gehen und eine Berlintaxe einzuführen, wie sie in Kurorten oder in Paris bereits üblich ist, hat diese Berliner Institution hier eine Maßnahme ergriffen, von der insbesondere die Berliner negativ betroffen sind. Ob dabei sehr große Gewinnzuwächse entstehen, ist fraglich. Ein anderes Beispiel: In den Potsdamer Gärten ist das Fahrradfahren nicht mehr erlaubt. Kein Wunder, denn es ist Tatsache, dass Touristen dank Fahrradverleihsystemen in sehr großen Gruppen und ohne Vernunft und Verkehrssicherheit durch die Straßen und Parks fahren und damit sich und andere gefährden. Dass sich fünf Jahre später ähnliche Beobachtungen in Kreuzberg machen lassen, unterstreicht die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen.

Phase 1: Imageprägung

Eine wichtige Rolle für die Imageprägung spielt die Pionierphase der Gentrifizierung. In der Pionierphase der Gentrifizierung kommt es zu einem verstärkten Zuzug junger Menschen mit hohem Bildungsniveau und hohem kreativem Potenzial, meist Künstler und Studierende, in Kieze, die hohe Leerstände und oder geringe Mieten im Wohn- und Gewerbebereich aufweisen. Dies ermöglicht Freiräume für alternative Lebensformen, auch als Gründung von Ökonomien mit geringem Kapitalaufwand – genau das, was Berlin so attraktiv macht für den Easyjetset. Das „szenige“ Angebot in Form von Cafés, Kneipen, Galerien, Clubs, Läden wird gleichermaßen von Pionieren wie von jungen Touristen nachgefragt. Dabei ist nicht allein das Angebot entscheidend, sondern es spielen die gefühlten oder realen Freiräume, die dieses Angebot ermöglichen, eine entscheidende Rolle in der Imagebildung des Gebietes.

Die Bekanntheit des lokalen Angebotes ist zu diesem Zeitpunkt auf szenenahe Stadtbewohner begrenzt, dennoch ist der Einfluss auch der Besucher auf die Umsatzentwicklung der lokalen Ökonomie nicht zu vernachlässigen. Dies kann man derzeit sehr gut in den Kneipen in „Kreuzkölln“ sehen, wo sich sowohl das Berliner Szenepublikum als auch die jungen Stadtbesucher zahlreich wohlfühlen.

Phase 2: Etabliertes Szeneviertel

Der Besuchertypus verändert sich ab einer gewissen Konsuminfrastruktur, die mit dem Ende der Pionierphase der Gentrifizierung einhergeht. Der ehemalige „Insider-Tipp“ wird nun zum Szeneviertel, das verstärkt in Onlinemedien, Stadtmagazinen und nicht zuletzt in den Magazinen der Billigairlines Erwähnung findet.

Das lokale Angebot an Geschäften, Kneipen und Cafés wächst und wird stärker nachgefragt. Erste Preissteigerungen in der Gastronomie und vor allem den Mieten setzen ein, die noch wesentlich durch das Fortschreiten der Gentrifizierung erklärt werden können. Läden, die sich dieser Entwicklung verweigern, verlassen das Gebiet oder werden langfristig durch die sich verändernde, spezielle Nachfrage, auch von Besuchern, aus dem Gebiet verdrängt.

Als Szeneviertel lockt das Gebiet immer noch vor allem mit Angeboten zum abendlichen Kneipen- oder Clubbesuch, wobei sich das Ausgehangebot besonders an einer zentralen Achse und/oder in der Umgebung von Stationen des ÖPNV entwickelt. Zum einen bilden die ÖPNV-Stationen die Zugänge zum Gebiet, speziell für ortsunkundige Besucher von außerhalb, die auf einen Fixpunkt in Form einer Station, eines Platzes oder einer Straße angewiesen sind. Die räumliche Form und das Funktionsprinzip eines Touristifizierung-Gebiets ist dabei oft vergleichbar mit der Anlage von Shopping Malls mit zwei Ausgangspunkten und einer dazwischen liegenden Flanierstrecke, an der sich statt Einkaufsläden Kneipen reihen, was insbesondere an der Oranienburger Straße in Mitte deutlich wird, wo Tacheles und Hackescher Markt diese Funktionen wahrnehmen.

Mit zunehmenden Besucherzahlen entstehen besonders an Verkehrsknotenpunkten und an der Verbindungsachse Lärmemissionen, die von den Anwohnern verstärkt als Belästigung empfunden werden. Daher entscheidet in dieser Phase des Touristifizierungprozesses, ob und in welchem Umfang sich Touristifizierung oder Gentrifizierung durchsetzen. Nicht zuletzt die hohe Steuerkraft der Gentrifier kann für Bezirks- oder Stadtverwaltungen ausschlaggebend sein, die Ausbreitung der touristischen Konsuminfrastruktur durch Verordnungen einzudämmen. Ein solches Eingreifen ist allerdings nur zu einem Zeitpunkt wahrscheinlich, an dem Gentrifizierung und Touristifizierung sich vor Ort die Waage halten. In Friedrichshain wurde im letzten Jahr eine genehmigungsrechtliche Satzung erlassen, die den Bau von neuen Hostels und die zulässige Zimmeranzahl einschränkt.

Phase 3: Touristenattraktion

Im Zusammenspiel von Gentrifizeriung und Touristifizierung steigt die Attraktivität des Gebiets und die Häuser werden mehr und aufwendiger saniert. Die Preise für Mieten und Konsumgüter steigen dadurch weiter an.

Die ansässigen Läden passen ihr Angebot der touristischen Nachfrage an, das sich nicht nur auf Souvenirartikeln beschränkt, sondern auch ein gehobeneres, mit jungen Szenegängern assoziiertes Warensortiment einschließt. Davon profitieren junge Modedesigner, Anbieter von Einrichtungsgegenständen und Markenartikeln, die oftmals die Stadt oder das jeweilige Gebiet als Label nutzen und so das Viertel selbst als Marke etablieren. Das finanzielle Potenzial lockt Investoren, deren Existenzgründungen in Anzahl und Volumen die der Pioniere übersteigen. Es kommt zu einer erhöhten Konkurrenz um den ohnehin knappen Raum an Ladenflächen. Die Folge sind erhöhte Kosten für die Ladenmiete, was sich auf zweierlei Art auf die Produkte niederschlägt. Zum einen steigen die Preise für Konsumgüter, vor allem in der Gastronomie, wo meist ein schlechteres Preis-Leistungsverhältnis als zuvor zu verzeichnen ist. Dies trifft ebenso auf die zu der Gastronomie hinzukommenden Shoppingangeboten, die das Gebiet auch tagsüber attraktiv machen.

Das Gebiet ist nun am Tag durch Shopping und Cafés, wie auch in der Nacht durch das Gastronomieangebot rundum für Touristen attraktiv. Der Ladenraum ist nahezu voll ausgelastet und es drängen Gastronomieketten mit großem Platzbedarf, wie Starbucks oder McDonalds in das Gebiet. Es siedeln sich aber auch kleinere, lokale Ketten an.

Phase 4: Touristenviertel

In der vierten Phase der Touristifizierung etabliert sich das Gebiet als feste Sehenswürdigkeit der Stadt. Es zählt zu den Stadtteilen, die der Tourist unbedingt gesehen haben muss, selbst wenn er nur wenige Tage in der Stadt bleibt. Auf ein allgemeines Publikum zugeschnitten und durch allgemeine Reiseführer national bekannt, stellt der Kiez eine Attraktion der Stadt dar, die von einem breiten Publikum einer großen Alterspanne, von Schulklassen bis hin zu älteren Touristen besucht wird. In dieser Phase werden Touristenströme auch als Gruppen und in Reisebussen in und durch das Gebiet geführt. Dieser Zustand kann nur erreicht werden, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. So müssen Zentralität, bauliche Attraktivität, die Pflege der Hausfassaden und des öffentlichen Raumes auf höchstem Niveau sein. Die finanzstärksten Filialisten besetzen die Ladenflächen im Erdgeschoss und die touristisch kulturellen Großprojekte haben mittlerweile einen herausragenden Stellenwert sowie ein hohes Preisniveau im Vergnügungs- und Konsumangebot der Stadt erreicht.

Wurde bisher vor allem die ursprüngliche Unternehmensstruktur aus den in Touristifizierung befindlichen Orten verdrängt, findet jetzt auch eine Verdrängung der Wohnnutzung statt. Dies geschieht aufgrund einer Versorgungsinfrastruktur, die vornehmlich auf die Bedürfnisse des Besuchers ausgerichtet ist. Güter des täglichen Lebens werden von Touristen weniger nachgefragt, weshalb Supermärkte, Bäckereien, Metzgereien u. ä in touristischen Kiezen reduziert werden. Eine weitere Verdrängung liegt in der Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes. Dies geschieht zum einen durch die Entfernung von Straßenmobiliar wie öffentlichen Sitzmöglichkeiten und Toiletten zugunsten der gastronomischen Einrichtungen.

Wesentlich ist hier aber der Nutzungskonflikt um die Häuser. Die Konkurrenz um die Nutzung der Gebäude zwischen Unternehmern und Mietern, zwischen Hotels und Wohnnutzungen, zwischen Gastronomie und Einzelhandel führen zu einem Anstieg der Mietpreise auch in den höheren Stockwerken der Häuser. Der Prozess der Touristifizierung weitet sich vertikal aus, indem Unternehmen Büroräume zu Prestigezwecken auswählen, andere sich an solchen Orten Zweitwohnsitze mieten oder Wohnungen massiv zu Ferienunterkünften umgewandelt werden. Durch diese vertikale Ausweitung der kommerziellen Nutzung der Gebäude und dem teilzeitlichen Zuzug einer wohlhabenden Schicht wird die alltägliche Wohn- und Geschäftsnutzung aus dem Quartier verdrängt. Darüber berichtet heute auch der Tagesspiegel.

Die neuen Nutzungen sind überwiegend an Besucher gerichtet, das Gebiet hat seinen ursprünglichen Charakter als funktionsgemischtes innerstädtisches Wohngebiet verloren und hat damit seine Identität gewechselt. Es ist allerdings fraglich, wie lange die Identität als touristischer Anziehungspunkt dann tatsächlich noch für Touristen attraktiv bleibt. Denn im Image des Szeneviertels  gründete einst seine Anziehungskraft.

Und nun?

Städtetourismus hat in den vergangenen Jahren ein im Branchenvergleich deutlich überdurchschnittliches Wachstum erfahren. Auch die weltweite Wirtschaftskrise und zwischenzeitliche Rekordpreise für Öl haben diesen Trend nicht abreißen lassen. Im vergangenen Jahr wurden in Berlin 20 Mio. Übernachtungen im Gastgewerbe verzeichnet, was einem Zuwachs von über 10 % gegenüber 2009 entspricht. Es ist also evident, dass der Städtetourismus und seine positiven wie negativen Folgen zunehmend spürbar sind und werden. Die Veranstaltung der Grünen am vergangenen Montag zeigt, dass zunehmend Ängste entstehen, dass die negativen Auswirkungen überwiegen könnten. Das in diesem Artikel vorgestellte Phasenmodell ist als Angebot zu verstehen, der Debatte um einen stadtverträglichen Tourismus ein wissenschaftliches Gerüst zur Verfügung zu stellen. Damit könnte ein Beitrag dazu geleistet werden, die Risiken aber auch Chancen des Städte- und Stadtteiltourismus zu identifizieren und den Diskurs um die zukünftige Tourismusentwicklung lösungsorientiert und ideologiefrei zu führen.

In diesen Diskurs möchten wir uns gerne einbringen und freuen uns daher auf Eure Reaktionen zu diesem Modell.