Ein persönlicher, unobjektiver Reisebericht
Chicago vom John Hancook Center aus

CTA Blue line, Jackson Blvd Station, die Türen gehen auf, ich bin in Chicago angekommen. Doch irgendwas stimmt nicht – eine innere Unruhe stellt sich ein. Ich bin müde, mir pfeifft die “Windy City” heftig um die Ohren. Die Hochhäuser, die Dichte, die “L” über mir wirken abstoßend, bedrohlich, ich sehne mich nach der europäischen Stadt, nach einer europäischen Stadt – von mir aus Itzehoe, irgendwoe. Ich irre herum, möchte einkehren, was essen, den Reiseführer um Hilfe bitten, finde aber nur Fast Food oder Schickimicki. Zweifel, Missmut – doch auf einmal tauchen sie vor mir auf: Die Mies van der Rohes, die Sullivans, die Goldbergs, die Fujikawas. Und ich blicke mich um, blicke nach oben, blicke genauer und weiß kaum noch, wo ich hinblicken soll. Und ich fasse Mut und Hoffnung – die Stadt wird die Reise wert sein!

Die Größe der Stadt ist nich zu greifen – die Bebauung verschmilzt am Horizont mit dem dunstigen Himmel. Und doch überrascht es, wie schnell die städtische Szenerie wechselt. Auf der Magnificent Mile (aka Michigan Avenue) tobt der Kampf der Einzelhändler in den Sockelbauten der Wolkenkratzer um die betuchte Kundschaft. Kaum zwei Häuserblocks weiter (Streeterville) lebt die Bourgeoisie in historisierenden Jahrhundertwende-Stadthäusern. Anstelle der Flagship-Stores der internationalen Ketten treten nun edle Boutiquen. Auch wenn sich die Stadt des Windes an diesem Tag milde zeigt, nahezu vollständig auf Wind verzichtet und Sonnenschein anbietet, sind die Straßen leer. Bis auf den Autoverkehr ist es absolut still – öffentliches Leben ist nicht zu entdecken. Und so verfliegt das anfängliche Gefallen an diesem scheinbaren Gegenpol zum hektischen Downtown-Bereich und weicht einer beklemmenden Irritation. Wo sind die Menschen? Vielleicht sind es DINKS und arbeiten – dennoch, ich fühle mich beobachtet und ziehe lieber weiter, lasse mich treiben. Plötzlich stehe ich an einem dreieckigen Grundstück, flankiert von zwei sechsspurigen Straßen. Es ist unbebaut aber anstatt Brache entdecke ich ein Urban Farming-Projekt. Der Frühling beginnt gerade erst und so gibt es noch nicht viel zu sehen, aber drei junge Männer arbeiten an einem Gemüsebeet. Eine Infotafel verrät, dass die Arbeit ehrenamtlich ist und alle Anbauten selbstverständlich bio sind (vielleicht bis auf die Gifte der Autoabgase…).
Sattgesehen versuche ich mich am Nahverkehr, der für Chicago wahrlich stadtbildprägend ist. Die "L"Der Downtown-Bereich heißt nich von Ungefähr “Loop”. Die U-Bahn ist eine Hochbahn, die auf massiven, heftig angerosteten, genieteten Stahlträgern durch die Innenstadt fährt. Stadtbildprägend, identitätsstiftend aber zugleich unverkennbarer Erkenntnisbringer, warum dieser Typus des innerstädtischen Nahverkehrs nur kurzzeitig als geeignet erachtet wurde: Das Lärmniveau übertrumpft gar den Pegel des von großen Motoren angetriebenen amerikansichen Autoverkehrs.

Chicago hat viele Gesichter. Viele Geschichten. Viele Images. Das bekannteste ist zweifelsohne das der Stadt des Verbrechens, Al Capone, Prohibition, Eliot Ness. Die Geschichte dazu wurde in zahllosen Filmen erzählt, darum werde ich von einer anderen – vielleicht etwas weniger bekannten – berichten: Chicago – Stadt der Moderne.
Ludwig Mies van der Rohe emmigrierte 1938 von den Nazis verfolgt nach Chiacgo und übernahm 1939 den Posten des Dekans der School of Archicture an der Uni, die später zum Illinois Institute of Technology (IIT) werden sollte. Eine der ersten Arbeiten von Mies van der Rohe (1949-51) in Chicago waren zwei gegeneinander um 90-Grad gewinkelt positionierte Hochhausscheiben in Streeterville (860-880 Lake Shore Drive Apartments), direkt an der Küste des Lake Michigan. Alle Projekte Mies van der Rohes in Chicago an dieser Stelle aufzuzählen wäre nicht zu bewerkstelligen, von einem besonders beeindruckenden möchte ich aber berichten:
Der Campus des IIT in der South Side wurde von Mies van der Rohe geplant und nicht weniger als sieben Gebaeude entstammen seiner Feder (u. a. die wunderbare S. R. Crown Hall). Allerdings umfasst das bei Weitem nicht alle Gebäude des Campus’; von nahezu gleichem Stellenwert – qualitiativ wie quantitativ – sind die Bauten von Skidmore, Owings & Merrill (SOM). Um auf diesen Umstand aufmerksam zu machen, wurden vor Kurzem vor allen verwechlungsgefährdeten, pavillonartigen Gebäuden Schilder mit “Mies” oder “Not Mies” aufgestellt. Not MiesDiese Aktion ließe sich sinnvoll auf ganz Chicago ausweiten, denn mit Fujikawa entstanden in den 1980er-Jahren Hochhäuser, die gestalterisch nahezu wie Repliken von Mies van der Rohes Bauten wirken.
Die Besonderheit der Stadt liegt allerdings darin, dass die Bauten der Moderne – samt ihrer landschaftsplanerischen Einbettung – nahezu unverändert vorhanden sind (so z. B. Lake Meadows von SOM). Sie werden nachts nicht von Strahlern in Szene gesetzt, unprätentiös, sind einfach da. So befindet sich die Post des Loop-District in einem Pavillon von Mies van der Rohe, der wie eine Kopie der Neuen Nationalgalerie aussieht. Anstelle der Kunstinstallationen finden sich hier Installationen des Alltags. Da Post, so scheint es, überall gleichermaßen langsam arbeitet, habe ich viel Zeit mich umzusehen und erfreue mich an einer vollständig erhaltenen Originalmöblierung und -materialien. Es scheint, Chicago verstehe die Bedeutung dieses Erbes. Oder sind das nur Alibibekenntnisse einer Zeit der Desinvestition? Die Gebäude von Mies van der Rohe scheinen auch später bei einem Aufschwung nicht bedroht, aber wie steht es um spätere Bauten – Vorboten der Nachnachvorpost-Epoche? Zugegeben, es sind wenige, aber diese sind herausragend, denn sie sind im US-amerikanischen Maßstab überhöht, sind größer, selbstbewusster und trotzdem weit weniger mutig als vergleichbare europäische Projekte. Es sind die Runden im Land des Rechtecks. Sie verweigern sich gegen die ökonomisch-maximale Ausnutzung der Grundstücksfläche. Und selbst wenn Mies über sie sagt “How can you use [fluid structures] in a tall building?” (1960), sie sind es, die wie eine Implosion des Rasters wahrlich revolutionäre aber nie eingetretene Veränderungen zu prophezeien scheinen. Funktional wie gestalterisch finden sich ausreichend Parallelen zu Bauwerken dieser Zeit in Europa, doch hier sind sie ausschließlich in Sichtbeton gehalten – das Spiel mit Materialien und Farben bleibt aus.Hillard Homes Und so scheinen sie wie eine Trutzburg im Meer der zuvor errichteten Bauten der Moderne und den späteren Gebäuden der International Corporate Whatever Architecture ihre Vision zu vertreten, zu verteidigen – und finden trotzdem nicht den Mut, sich zu radikalisieren, zu polarisieren. So ist Bertrand Goldbergs Marina City – eine gebauten Vision der vertikalen Stadt in der Stadt – mit ihren amorphen, transparenten Sichtbetongeschossscheiben von einer in Chicago wohl unerreichten Leichtigkeit und Eleganz und schafft es dennoch nicht die mit ihr verbundene gesellschaftliche Vision gestalterisch zu proklamieren. Im Gegenteil – denn anstelle der Upper Class Condons der Marina City ist es der soziale Wohnungsbau der ebenfalls von Goldberg entworfenen Hillard Homes (Near South Side), der durch die eingeschnürten Fassadensegmente eine intime, persönliche Wirkung erreicht und durch seine landschaftsplanerische Einbettung das Versprechen nach bezahlbaren und qualitativ hochwertigem Lebensraum einzuhalten scheint.

Ich bin überwältigt und muss dennoch reflektieren. Dazu suche ich einen Gegenpol und finde ihn in Frank Lloyd Wright, der in Chicagoland unzählige Gebäude entworfen hat. Der hier implizierte Vergleich zwischen Mies van der Rohe und Frank Lloyd Wright ist so haarsträubend, dass ich kaum wage ihn aufzuschreiben. Und dennoch, die räumliche Nähe der Bauten dieser beiden herausragenden Architekten scheint eine Positionierung zu fordern: Modernist oder Traditionalist? Die negative Konnotation des Traditionalisten als rückwärtsgewandt ist dabei an dieser Stelle keineswegs gewollt oder angemessen. Schließlich war Frank Lloyd Wright durchaus auch sehr progressiv. Und dennoch fällt meine Positionierung eindeutig zugunsten Mies van der Rohes aus. Ein Architekt wie Frank Lloyd Wright, dessen Hauptwerk aus Luxusvillen in noblen Vororten besteht, mag zwar eine (wohl nahezu) unerreichte gestalterische Freiheit genossen haben, ihm fehlt es aber an einer glaubhaften gesellschaftlichen Vision. So urteilt auch Mies: “But if I had to build in concrete, I would not build like Wright. I see no reason for that, because I believe these Wright things don’t belong in our time.” (1960) Und so sieht der Vorort, in dem Frank Lloyd Wright 27 Häuser entworfen hat, die allesamt noch erhalten sind, wohl genau so aus, wie er seinerzeit konzipiert wurde: von kurzgetrimmten Rasen umgeben, mit großen Auto(s) auf der Auffahrt und USA-Fahne am Mast. Das Progressive an Frank Lloyd Wright’s Prairie-Style scheint im Dekorativen zu liegen, mitunter zu lasten der Funktion.

Und so steige ich wieder in die “L”, Green Line, inbound, durchquere auf dem Weg Gebiete, die aussehen wie nach einem (verlorenen) Krieg: Disperse Räume, in denen nur noch vereinzelt Gebäude stehen. Ein Resultat der Slum Clearance. Und ich verstehe, dass ich diese Stadt noch nicht verstehe. Sicher, reiche Suburbs, arme Stadtrandquartiere und teuere Downtown-Bereiche sind nicht ungewöhnlich und auch nicht schwer zu verstehen. Doch die Zwischenräume – mal sanfte Übergänge, mal krasse Abrisskanten – sind es, die mich faszinieren und deren Struktur und Verlauf ich nicht lesen kann. Und so treibe ich weiter und werde immer wieder überrascht, erschreckt, herausgefordert. Und so führt mich der Weg nach Hyde Park, wo die University of Chicago gelegen ist, zu einer Hochbahnstation inmitten eines Slum-Clearance-Gebietes, das in seiner nur noch vom Straßenraster zusammengehaltenen Raumstruktur selbst bei frühlingshaftem Sonnenschein eine bedrohliche Perspektivlosigkeit ausstrahlt.

Doch so plötzlich ich in einem solchen Viertel aufgetaucht bin, so plötzlich reißt es mich wieder heraus – ein Park markiert in diesem Falle die deutliche, unmissverständliche Grenze zum Campus-Stadtquartier der UIC mit seinen viktorianischen Unigebäuden und perfekten Rasenflächen. Auch hier scheint die architektonische Konkurrenz zu streiten – ein Bau von Mies, einer von Wright, Brutalismus und natürlich das Gros an Viktorianismus. Ich schlendere an den gut aussehenden Studierenden einer amerikanischen Eliteuni vorbei in Richtung Lake Michigan und werde belohnt mit einer geleckten Uferpromenade. Ich wage es, sei zu benutzen, setze mich an den meergroßen See und habe die Skyline von Downtown-Chicago vor mir, die Sonne im Nacken. Hunde – so wie überall, doch scheint es mir hier auffälliger als anderswo – sind Statussymbol der (Neu-)Reichen. Und so bin ich umgeben von Pudeln, die wohl ebenso lange bei Frisör verbringen, wie ihr Herr- oder Frauchen.

Ich habe genug von diesem Viertel, habe ein drängendes Bedürfnis nach Urbanität und suche also die nächstgelegene Station des ÖPNV – dem historischen Ermöglicher der Metropolenentwicklung. Doch die Gattung, die ich hier antreffe, lässt mich von einem eigenen PKW tagträumen. Diese Vorortzüge (aka S-Bahn) verkehren bestenfalls im Halbstundentakt, sind langsam und werden mit Doppelstockzügen bedient, die mich unangenehm an das Alcatraz-Gefängnis erinnern. Ich frage mich, ob dies Resultat oder Ursache der individuellen Motorisierung in den USA ist und erkenne im Moment des Gedankens, dass die Frage müßig weil rhetorisch ist.
Trotz allen Unkens bringt mich der Zug gewissenhaft ans Ziel uns so finde ich mich vor dem Chicago Art Institute wieder, das eine umwerfende Sammlung hat, dessen feiner Anbau von Renzo Piano entworfen wurde und dessen Ausstellungsfläche für Architektur (60er/70er-Jahre USA) leider viel zu klein ist.

Nachdem ich den Reizüberfluss des Museums überwunden habe, treibe ich nach Norden und finde ich mich an der Gold Coast wieder. Jede Stadt hat seine wohlhabenden Quartiere. Am Beispiel der Gold Coast erkenne ich jedoch, dass das Maß der Selbstinszenierung stark variieren kann. Es ist sommerlich warm und so zieht es die Menschen zum Lunch in die Außenbereiche der Restaurants. Anhand ihrer Kleidung, ihres Habitus doch insbesondere anhand der vor den Restaurants geparkten Luxuskarossen wird mir offenbar, dass ich mich wohl mal wieder verlaufen habe – sofern sich ein Stück Treibgut verlaufen kann. Hier sind sie also, die Schönen und die Reichen. Ich bin beeindruckt und eingeschüchtert, habe zwar Hunger, wage es aber nicht, mich dazuzugesellen. Und so schlendere ich durch Straßen, die von Luxuscondos gesäumt sind – blitzeblanke Vorfahrten, perfekt gepflegte, umzäunte Minivorgärten und überall Dogwalker, die ganze Rudel von Hunden Gassi führen.
Ich erreiche die Küste – eine durch Highways von der Stadt getrennte Uferpromenade samt Sandstrand erwartet mich. Ich setze mich an die Wasserkante und fühle mich wie ein Exot. Um mich herum sind nahezu alle am Sport treiben, mit nackten (oder Bikini-verhüllten) Oberkörpern. Etwas verschämt doch nicht unglücklich angesichts meines selbstrezipierten Exotismus, rauche ich meine Zigarette auf und werfe mich ein weiteres Mal in die Wellen der Großstadt.
N Wacker Dr
Und diese Woge bringt mich an den Ort, den ich gesucht habe: Ich lande an der North Halsted, Höhe Belmont in Lakeview, einem Viertel, das bei Tag und Nacht lebt und pulsiert. Uns so fällt mir ein Stein vom Herzen – ich habe meine Ecke Chicagos gefunden! Es gibt schöne Cafés und Restaurants, Theater, Blues-Schuppen und nette Läden. Es ist ein bisschen wie Berlin-Schöneberg (auch hier findet sich die schwule Szene). Ein angenehmer Mix aus schicken, aber entspannten Läden, Bio- und Ökocafés und sonstigen Verrücktheiten. Ich fühle mich wohl und habe den Eindruck, dass es meinen Mitmenschen ebenso geht.

Und so sitze ich ein einer kleinen Bar und finde die Ruhe für den Versuch eines Fazits meiner Reise nach Chicago. Die Frage, die mich dabei am meisten bewegt ist, ob diese Stadt wirklich die “Stadt der Moderne” sein kann? Ist eine überwältigende Anzahl wunderbarer Bauten dieser Epoche wirklich ausreichend für diesen Titel? Oder blenden uns diese Leuchttürme und lassen uns mit zusammengekniffenen Augen übersehen, dass diese Stadt in Bezug auf Sozialstruktur und öffentlichem Raum keinerlei modernistische Gedanken erkennen lässt? Die Antwort, die ich nur fragmenthaft zu geben im Stande bin, muss wohl ein klares Jein sein. Wie jede Großstadt und insbesondere die amerikanische Großstadt ist auch Chicago ein Ort der sozialen Ungleichheit und räumlicher Disparitäten. Doch ist Chicago auch ein Ort, an dem das Experiment der Moderne in einer kaum anderswo erreichten Dimension versucht wurde. Und selbst wenn heute nicht mehr modernistisch gebaut und geplant wird, so sind die hier realisierten Projekte bis heute qualitativ herausragende, zeitlose Vorbilder.

Chicago – Du hast mich. Du faszinierst mich mit Deinen Widersprüchen. Ich möchte hier nie leben, aber bin in Deinen Bann gezogen, Du Prototyp der amerikanischen Großstadt. Du warst gut zu mir, ich werde bestimmt wieder kommen.
Bis dahin bleibe Standhaft – bleibe die Stadt der Moderne!

Praktische Hinweise

  • Ein absolutes Muss ist der Architekturführer “AIA Guide to Chicago“, der erschöpfend die Architektur aller Epochen dieser Stadt beschreibt und kartiert. Den Führer gibt es in nahezu allen größeren Buchhandlungen vor Ort zu kaufen. ISBN 978-0156029087
  • Im Chicago ArchiCenter an der 224 S Michigan Av. gibt es ein Stadtmodell und umfangreiche Informationen zu Architektur und Stadtentwicklung. Zudem ist ein netter Buchladen angeschlossen.

Fotogalerie
Einige Fotos meiner Reise finden sich in meinem Picasa-Webalbum.

Die in diesem Bericht verwendeten Mies van der Rohe-Zitate entstammen dem Buch “Conversations with Mies van der Rohe” von Moisés Puente (ISBN 978-1568987538).