Quelle: jovis

„How can an architect show what cannot be seen but only felt?“ fragen sich die Pariser Architekturphilosophen Sensual City Studio in ihrer täglichen Praxis. Mit ihrem Bildessay „A History of Thresholds – life, death & rebirth“ geben sie am Beispiel des architektonischen Elements der Schwelle eine denkbare Antwort auf diese Frage. Gleichzeitig erklären sie mit dem Lebenszyklus der Schwelle – life, death & rebirth – das Mensch-Raum-Problem der Moderne auf andere Art und schlagen die Neuerfindung der Schwelle als konkrete Lösung vor.

An der empfundenen Anonymität, der Distanz, Leere, Beliebigkeit und Unnahbarkeit moderner Stadtstruktur und Architektur, so suggeriert es der Essay in sorgfältig ausgewählten Bildern und kleinen, prägnanten Texten, sei das Verschwinden der Schwelle schuld. Man mag sofort anmerken, dass die Autoren – Pauline Marchetti [Architektin], Philippe Simay [Philosoph], Estefania Mompean [Urban Designer, Architekt] und Jacques Ferrier [Architekt und Stadtplaner] – mit diesem Hintergrundgedanken lediglich bekannte Topoi der Modernekritik aufrufen. Ihre Idee aber, diese so bildhaft an einem zu unrecht oft übersehenen architektonischen Element deutlich zu machen und die konsequente, poetisierende, klare und kluge Durcharbeitung des Narrativs Schwelle überzeugt und ist innovativ.

Quelle: jovis

Wann sehe ich die Schwelle? Habe ich Lust, sie zu überwinden? Sehe ich, was mich dahinter erwartet? Darf ich sie betreten? Sie überschreiten? Ist das beschwerlich? Darf ich das? Klingeln? Vorher die Schuhe ausziehen? Wie ziehe ich die Schuhe aus? Drehe ich mich nach ihr um?

Die Schwelle verbinde und trenne, sie ordne und markiere, sie sei symbolisch und mache insbesondere Übergänge erfahrbar. Übergänge von einem Raum zum anderen in einem Haus, Übergänge vom öffentlichen in den privaten Raum, von einem Ort zum anderen. Sie mache uns den Raum bewusst, da sie unsere Bewegung im Raum und mitunter unser Verhalten beeinflusse, wenn wir sie wahrnehmen, sie betreten oder überschreiten, in den Raum auf der anderen Seite eintreten: Die Schwelle wird hier als Aktant des Raums deutlich, der Choreografien, Empfindungen und Beziehungen schafft.

Öffentlichkeit und Privatheit als Definitionskriterien von Urbanität werden hier relevant. Die Architektur der Moderne, so sehen es Sensual City Studio, eliminiere die Frage danach, wie Innen und Außen verbunden werden sollen, indem sie die Schwelle aus dem architektonischen Elementenkasten lösche und durch Glas ersetze (S. 59, fig. 050). Transparenz aus Glas werde zum Synonym für Wahrheit, Emanzipation und Reinheit (S. 61, fig. 052) und sei eine Finte, da sie doch nur den gläsern mache, der im Glashaus sitze (S. 67, fig. 057). So verstanden betrog uns also der Verlust der Schwelle um unsere Raumerfahrung, sowie das Glas uns um unsere Sehnsüchte und Träume betrog:

Quelle: jovis

zitieren Sensual City Studio aus Paul Scheerbarts „Glass Architecture“ von 1914 (S. 62).

Sensual City Studio schlagen vor, Stadtplanung heute auf Atmosphären zu gründen und zeitgemäße Schwellen zwischen diesen mit den Mitteln der Sinnlichkeit zu schaffen:  Geruch, Licht, Material, Farbe, Form, Bildschirme, Worte, als Spiel von Bedeutungen… Stadt wird so zum Gefüge von Atmosphären, die mittels der Wahrnehmung sinnlicher Schwellen architektonisch strukturiert und erfahrbar werden.

Quelle: jovis

„Humans still breathe in and out. When is architecture doing the same?“ (S. 140, fig. 121) Dieses Buch atmet aufgrund seiner Regie aus Bild, Text, klarer Grafik und symbolischem Einsatz unterschiedlicher Papiere. Die Übergänge zwischen life, death and rebirth der Schwelle werden im Buch sinnlich erfahrbar; es bleibt dem Leser beim Spazieren auszutesten, ob die von Sensual City Studio vorgeschlagene sinnliche Schwellenbildung es wohl vermag, Empfindungen über Architektur sichtbar zu machen.

Sensual City Studio: A History of Thresholds, life, death & rebirth. A visual narrative. Berlin: jovis 2018. Schweizer Broschur mit Klappen, 15x21cm, 184 Seiten, 129 Abbildungen, Englisch, 32,00 €, Juni 2018.