Christoph Stölzl, den Berlinern und Berlinerinnen vielleicht noch bekannt als Senator für Kultur und Wissenschaft, ist eine Person, mit einem sehr interessanten, da wechselvollen Leben, in das jedoch eine Konstante, nämlich die der Kultur und der Zuneigung zu Menschen und Geschichten, eingeschrieben ist.

Davon, dass er diesen Feldern sehr zugeneigt und ständig neugierig ist sowohl in ihnen, als auch an deren Rändern, Entdeckungen zu machen, zeugt nicht nur sein berufliches und privates Engagement, sondern auch sein m.E. exzellenter Musikgeschmack, den er seinerzeit, wenn ich mich richtig erinnere, in der Hörbar Rust auf Radio Eins bewiesen hat.

Jüngst erschien im Schweizer Nimbus Verlag ein neuerlicher Beweis der Leidenschaft und Neugier: eine mit „Morgens um Sechs bei Haubentaucher und Co.“ betitelte Sammlung „Berliner Flanierstücke“, die er zwischen 2008 und 2010 für den Feuilleton der “Berliner Morgenpost” aufnahm und verdichtete.

Abb.: Cover des Buches, mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Abb.: Cover des Buches, mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Die impressionistisch gefärbten Essays sind allesamt Resultate einer eifrigen gehenden Denktätigkeit oder, in Abwandlung des Slogans des leider nicht mehr existierenden Plattenlabels „Heimelektro Ulm“, könnte auch gelten, es handelt sich bei den Miniaturen um „Texte für Beine mit Kopf“. Und tatsächlich, das ist für mich das Besondere an den vorliegenden napp neunzig! Geschichten, sind diese alle vom expliziten Berlin-Kenner Stölzl selbst erlaufen und erlebt worden.

Teils in sehr nachdenklichem Ton, teils heiter, lässig, dann wieder rückgreifend und ausufernd, teils sehr detailliert, teils kurz und knapp, im Skizzenstil, widmet er jedem Anlass, jeder Begegnung ihr eigenes Format der Darstellung und Vermittlung. Er beginnt jedes mal von vorne, schreitet von neuem aus und gibt sich selbst niemals der drögen Wiederholung eines eingeübten Verstehens- oder Sehensmodus hin.

Dies macht den Band so spannend und lädt ein, die Geschichten nachklingen zu lassen, sie in einem größeren Zusammenhang zu begreifen. So lernen die Rezipienten nicht nur das Erkennen und Dechiffrieren des Großen im Kleinen, sondern auch das Zeichen- und Spurenlesen in einer Stadt, die sich nicht nur wesentlich schneller als die meisten Städte verändert, sondern auch von einem Umbruch in den nächsten Gerät. Dass das nicht erst seit gestern so ist, sondern zur Berliner Tradition gehört, lässt sich den Texten der Sammlung nicht eindeutig ablesen, aber dafür gibt es ja auch andere Flaneurs-Literatur.

Manchmal jedoch kippt die angeschlagene positive Geneigtheit der Texte ins Lehrerhafte, wie z.b. in der geschichte: „Deutschland – Multiple Choice“, was ich streckenweise, bei aller Begeisterung, eher unsympathisch finde (obwohl ich mir einbilde zu erahnen, worauf Stölzl hinaus will). Diese seltenen Momente der leisen Empörung werden aber schnell wieder aufgefangen, was für die kenntnisreiche Auswahl und Reihung der Texte spricht.

Das Staunen und offene auf Menschen zugehen Stölzls überwindet das Wundern und löst, soweit sich im Internet recherchieren lässt, eher Begeisterung statt Unbill aus. Dem schließe ich mich gerne an. Ob dies aber reicht, ihn in die Reihe zu Hessel, Kerr und Roth zu stellen, wie Bernd Schultz es in seinem Artikel in der Morgenpost schreibt, wird die Zeit zeigen. Zeit, die, im übrigen auch bei den vorbenannten, sog. „großen Berliner Flaneuren“, erst vergehen musste.

Ich jedenfalls wünsche Stölzl und dem Buch jedoch unbedingt schon zu Lebzeiten den Erfolg, den es verdient. Vor allem deshalb, damit es ihm am Ende nicht wie den Texten eben Benjamins und Konsorten ergeht, die erst eine viel zu späte Renaissance brauchten, damit ein größerer Reziepientenkreis die wahre Kunst, die echte Schönheit, die brilliante Tiefe und die Brisanz, die in ihnen verborgen liegt, verstehen und schätzen konnte.

Wer sich selbst ein Bild von Buch und Autor machen möchte, der folge seinen eigenen Augen und Ohren: Am kommenden Donnerstag, den 22. Mai, liest Christoph Stölzl im Berliner Bücherbogen aus seinem Buch. (Kreditkarte am Besten zu Hause lassen ;-))

Mehr Informationen findet ihr hier (Dass ihr dorthin zu Fuß geht, ausgerüstet mit offenen Sinnen und einem Notizblock nebst Bleistift, versteht sich spätestens jetzt sicherlich von selbst…)

————————————————————————————————-

„Morgens um sechs bei Haubentaucher & Co. – Berliner Flanierstücke“

Mit einem Vorwort von Mathias Döpfner

Autor: Christoph Stölzl

Erschienen im Nimbus Verlag Wädenswil (Februar 2014)

Leinen mit Schutzumschlag, 192 Seiten ohne Abbildungen

Preis CHF 29,80 / Euro 24,00; ISBN 978-3-907142-44-8

Webseite des Verlags

Leseprobe