von Paula Hentschel

9.2.13: Südgebäude Grenzanlage – Blick Richtung Frankfurt (Oder) (Foto: P. Hentschel)

9.2.13: Südgebäude Grenzanlage – Blick Richtung Frankfurt (Oder) (Foto: P. Hentschel)

Seit September 2012 fressen sich die gelben Abrissbagger auf der Stadtbrücke zwischen Frankfurt (Oder) und der polnischen Stadt Slubice durch einen Berg aus Glas, Stahl und Beton. Dort wird derzeit die innerstädtische Grenzanlage abgerissen. Schon bald wird damit ein wichtiges bauliches Zeugnis der europäischen Geschichte verschwunden sein und somit nicht mehr an die Zeit erinnern, in der eine EU-Außengrenze zwischen Deutschland und Polen verlief. Warum wird dieser geschichtsträchtige Ort abgerissen? Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Und was bedeutet der Abriss der europäischen Grenzanlage für die lokale Identität?

Die Bedeutung der Grenzanlage für die lokale Identität.

Um die Bedeutung des Ortes zu verstehen, kann ein Blick in die Historie der Grenzstädte helfen. Frankfurt (Oder) und die dazugehörige Dammvorstadt – das heutige Slubice, profitierten seit der Stadtgründung im 13. Jahrhundert von der Lage am Fluss. Doch spätestens mit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges wurde die Stadt an der Oder zunehmend Mittelpunkt territorialer Auseinandersetzungen. Als sie nach dem Zweiten Weltkrieg zerfiel, wurde die damalige Dammvorstadt von Frankfurt (Oder) dem polnischen Territorium zugeordnet und trägt seither den Namen „Slubice“. Die Region ist demzufolge von natürlichen und politischen Grenzen geprägt.

Seit 1945 spiegelte die wechselnde Durchlässigkeit der Grenze das politische Klima zwischen Deutschland und Polen wider. Während sich beide Länder bis in die 50er Jahre noch hermetisch voneinander abschotteten, wurden die Beschränkungen des Personen- und Warenverkehrs in den 60er Jahren allmählich gelockert. Der Einsatz von polnischen Frauen im Frankfurter Halbleiterwerk und das Freundschaftstreffen (1977) auf der Stadtbrücke markierten den Höhepunkt der deutsch-polnischen Zusammenarbeit der Nachkriegszeit. Diese Phase der offenen Grenze brach Ende des Jahres 1980 abrupt ab. Aus Furcht vor politischen Impulsen der Solidarnosc-Bewegung führte die DDR erneut die Visumpflicht ein, was einer Schließung der Grenze gleichkam. Durch die Auflösung des Warschauer Paktes, sowie die Wiedervereinigung Deutschlands und der damit verbundenen Verschiebung der Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft entstand 1991 eine neue Grenzsituation. Knapp 10 Jahre nach dem Mauerfall wurde dort unter dem Protest Frankfurter Bürger zur Sicherung der EU-Außengrenze eine neue Grenzanlage errichtet. Auf Frankfurter Seite entstanden am Brückenkopf zwei Gebäude und ein 92 Meter langes Stahl-Glas-Dach, die als Einrichtungen der Grenz- und Zollabfertigung dienten. Über acht Jahre mussten polnische und deutsche Bürger zum Teil mehrere Stunden warten, um die Brücke und damit die Grenze passieren zu dürfen.

Aber Polen entwickelte sich in rasantem Tempo und wurde 2004 Mitglied der Europäischen Union. In der Folge trat es 2007 dem Schengener Abkommen bei. Seit dem Beitritt Polens zum Schengenraum verschwanden zunächst die Zoll- und später auch die Grenzkontrollen. Seitdem standen die Abfertigungsgebäude, die sich im Eigentum der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) befinden, über Jahre leer. Nach langen Verhandlungen und Pflichtzuweisungen hinsichtlich der Finanzierung des Rückbaus einigten sich die BIMA und die Stadtverwaltung von Frankfurt (Oder) schließlich auf den Abriss der Grenzanlage. Die lokalen politischen Vertreter trugen diese Lösung mit. Für die Entscheidung wurden sowohl finanzielle (z.B. Altlasten), als auch ästhetische Gründe herangezogen.

Die Motive für den Abriss sitzen jedoch viel tiefer und sind so vielschichtig wie die Historie der Grenze selbst: Die Grenzanlage stigmatisiert noch heute eine ganze Region. Sie erinnert an Kriege, Teilung und wechselnde, politische Vorherrschaften. Mit dem Rückbau soll diese Vergangenheit endgültig ausgelöscht und damit ein Stück Normalität hergestellt werden. Damit haben die Verantwortlichen aus Planung und Politik in Frankfurt (Oder) ihrer Stadt jedoch das genommen, was sie im Kern prägt – die lokale Identität als historische Grenzstadt.

Warum wurde der Wert der Grenzanlage nicht erkannt?

Nach Einschätzung der Unteren Denkmalschutzbehörde kann der Grenzanlage weder ein architektonischer, noch ein historischer Wert zuerkannt werden. Das geltende Brandenburgische Denkmalschutzgesetz konnte daher nicht zum Erhalt der Anlage beitragen. Allerdings betont die Stadt in Ihrem integrierten Stadtentwicklungskonzept (INSEK) von November 2007 selbst, dass es sich um die „einzig erhaltene innerstädtische Grenzanlage an der Oder“ handelt.
Die Denkmalschutzbehörde stellt weiterhin fest, dass der Standort der heutigen Grenzanlagen mit den Grenzanlagen des Kalten Krieges identisch sei. Somit wäre eine historische Dimension eindeutig nachgewiesen.Die widersprüchliche Argumentation der Stadt wird auch in der Einschätzung zur städtebaulichen Bedeutung der Anlage deutlich:Im Rahmen des fortgeschriebenen Neuordnungskonzeptes von April 2009 hat das Stadtplanungsamt die Wiederbebauung der freigelegten Flächen vorgesehen. Dies wird mit der Bedeutung des Ortes als Stadteingang begründet.
Ein langfristig tragfähiges Nutzungskonzept scheint jedoch noch nicht vorzuliegen, da zunächst temporäre Maßnahmen zur Nachnutzung der frei gewordenen Flächen vorgesehen sind. Durch den Abriss werden somit Rasenflächen und Leerräume geschaffen, die das städtische Erscheinungsbild weiter aufweichen und den städtebaulichen Zusammenhang zwischen Frankfurt (Oder) und Slubice zerstören.

Einzelne Architekten, Stadtplaner und engagierte Bürger wiesen in einer Stellungnahme und in Bürgersprechstunden auf den Wert der Grenzanlage und die Risiken des Abrisses hin. 1 Sie appellierten an den Bürgermeister der Stadt Frankfurt (Oder), den Rückbau zu stoppen.2
Trotz der Anreize und Versuche der zuständigen Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) zur Sicherung der Grenzanlage, ließen sich die Stadtverordneten jedoch nicht für deren Erhalt umstimmen. Die Stadt lehnte alle Varianten aus Kostengründen ab. Für die Kosten in Höhe von knapp 1,4 Mio. EUR kommen nun die BIMA und der Landesbetrieb für Straßenbau auf. Kurz vor Beginn der Abrissarbeiten riefen die Bürgermeister von Frankfurt (Oder) und Slubice in Vorbereitung der EU-Förderperiode 2014 – 2020 die Bevölkerung dazu auf, Ideen für nachhaltige, innovative Projekte für beide Städte zu entwickeln. Obwohl offensichtlich unausgeschöpfte, europäische Mittel für grenzüberschreitende Kooperationen zur Verfügung standen, fehlten der Stadt der Mut und die Visionen einer Umnutzung.

Umnutzung von Grenzanlagen

Dabei gibt es bereits in anderen Grenzregionen gelungene Beispiele für zivile Umnutzungen von Grenzanlagen (z.B. „Köpfchen“ an der deutsch – belgischen Grenze oder das Grenzdenkmal „Hötensleben“). Sie beweisen, welches bürgerschaftliche und touristische Potential in europäischen Grenzräumen steckt.

Durch die attraktive Lage am Wasser und am Oder- Neiße Radweg hätte die Belebung der Grenzanlage sowohl wirtschaftliche, als auch soziale Synergieeffekte auslösen können. Der Stadtpolitik und der Verwaltung von Frankfurt (Oder) waren sogar potentielle Nutzer bekannt. Der interkulturelle Verein „Slubfurt“ durfte beispielsweise die Grenzanlage jahrelang zur Vermittlung der deutschen und polnischen Kultur zwischennutzen. Unter der Leitung des Künstlers Michael Kurzwelly legten Studenten, Bürgern und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, die Geschichte des Grenzraumes frei und entwickelte Ideen eines transkulturellen Stadtraumes. Im Rahmen der Slubfurt-Olymiade spielte der Verein mit der Wettbewerbsdisziplin “Zigarettenstangenweitwurf“ beispielsweise auf den Grenzschmuggel an, der räumliche Spuren hinterlassen hatte. Denn nach 1993 wurde durch den Zoll unterhalb der Stadtbrücke ein Netz angebracht, das verhindern sollte, Schmuggelware von der Brücke auf die deutsche Uferseite zu werfen. Diese Grenzgeschichte der Stadt wird in wenigen Tagen jedoch unwiderruflich verschwunden sein.

Schlussendlich stellt sich die Frage, warum Frankfurt (Oder) nicht zu seiner Grenzgeschichte mit ihren baulichen Zeugnissen steht. Hier kann vermutet werden, dass Geschichte bereinigt, verdrängt oder geschönt werden soll. Für die Hintergründe hätte es einer Diskussion bedurft. Laut Aussage der Stadtverwaltung, fehlte allerdings das öffentliche Interesse um den Rückbau aufzuhalten. Doch weder die Stadtverwaltung, noch die lokale Presse suchten die öffentliche Diskussion. Im Fall der Grenzanlage trat die Presse vorrangig als Sprachrohr der Stadtverwaltung in Erscheinung. Die Stigmatisierung der Grenzanlage zu einem Unort wurde selten hinterfragt und ungefiltert in die knappe, unausgewogene Berichterstattung übernommen.

Was können wir aus dieser Erfahrung für die Zukunft lernen?

Am Beispiel von Frankfurt (Oder) wird deutlich, dass Städte in schrumpfenden Räumen vor allem durch Sachzwänge, wie z.B. Leerstand getrieben sind. Heute passieren täglich ca. 17.000 – 19.000 Fahrzeuge die Stadtbrücke. Doch vom Wirtschaftswachstum der europäischen Metropolen profitieren die Grenzstädte Slubice und Frankfurt (Oder) nur selten. Sie gehören zu den Städten, die zwar mittendrin, aber doch abgehängt sind. Aus diesem Grund setzen heute viele dieser Städte auf innovative Konzepte externer Berater, internationale Wettbewerbe und hohe Investitionssummen, um vor allem ihre Innenstädte zu verschönern. Es fehlen häufig der Mut, wie auch die Kraft für die Umsetzung neuer Ideen und Umnutzungskonzepte. Abriss steht im Trend und vorhandene Potentiale bleiben ungenutzt, obwohl durchaus auch in Frankfurt (Oder) bürgerschaftliches Engagement vorhanden ist. So haben eine Gruppe Frankfurter Architekten und Bürger, in einem Appell an den Bürgermeister auf die „charakterbildenden Elemente des Ortes“ hingewiesen. 3

Leider haben die lokalen politischen Vertreter die Umnutzungspotentiale des Ortes nicht erkannt. Denn eine Umnutzung der Grenzanlage für zivile Zwecke kann den Bedeutungswandel von Grenzen vermitteln. Die genannten Beispiele anderer Grenzräume beweisen, dass der Wunsch einer Grenzregion nach Normalität nicht im Widerspruch zu dem Erhalt von Grenzanlagen stehen muss. Zumal die Diskussion mit den Bürgern über den Wert der Grenzarchitektur, unabhängig von dem Ergebnis, ein identitätsstiftendes Potential in sich trägt. Was bleibt, sind verpasste Chancen eines lebendigen, interkulturellen Ortes einerseits und Brachflächen und Neubaukonzepte, die nicht finanziert werden können, andererseits.

Wenn auch der Denkmalschutz im rechtlichen Sinne keine historischen Wert feststellen konnte, hätte neben der einmaligen Lage der Grenzgebäude in der Innenstadt, auch ihr Wert als „Zeitzeuge“ der jüngeren europäischen Geschichte geltend gemacht werden können.
Wir leben in einer Zeit, in der die Grenzen der EU stetig verschoben werden. Während die europäische Idee der Überwindung nationaler Binnengrenzen dem deutsch-polnischen Zwischenraum an der Oder ein Stück Freiheit gebracht hat, werden andernorts auch weiterhin Menschen durch Grenzen ausgeschlossen und zu Opfern dieser Grenzpolitik.
Die Auseinandersetzung mit der sichtbaren Materialität der EU – Grenzanlagen hätte zum Bewusstsein beitragen können, dass das Problem trotz Stilllegung nicht aus der Welt ist.
Fest steht, dass mit dem Rückbau der einzigen innerstädtischen Grenzanlage an der Oder, nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal der Stadt Frankfurt (Oder) verloren geht, sondern auch ein Stück Erinnerung für die folgenden Generationen.

_________

Über die Autorin: Paula Hentschel, geboren in Schwerin. Sie studierte Stadt- und Regionalplanung an der BTU in Cottbus und hat 2011 den Masterabschluss gemacht. Paula lebt und arbeitet zurzeit in Frankfurt (Oder) und nutzt regelmäßig die Brücke zwischen Frankfurt und Slubice.

  1. Deutsch-Polnische-Begegnungshalle; Frankfurt (Oder); 2012; S.2
  2. Protokoll der 33. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung; Frankfurt (Oder); 14.02.2013
  3. Deutsch-Polnische-Begegnungshalle; Frankfurt (Oder);2012; S.2