Panorama von Quito

Blick auf Quito (Bild: Quito Lights by El Freddy via flickr)

Klaus Teschner ist Architekt und Stadtreferent bei Misereor mit regionalen Schwerpunkten auf Afrika und Lateinamerika. Außerdem ist er Vorstandsmitglied des Vereins TRIALOG e.V., der regelmäßig Magazine zu Themen des Planens und Bauens im Globalen Süden veröffentlicht. Laura v. Puttkamer hat mit ihm über die New Urban Agenda, die im Oktober bei der HABITAT III Konferenz verabschiedet werden soll, gesprochen. Dies ist damit der zweite Teil der Artikel-Serie zur New Urban Agenda.

Was sind die drei größten Kritikpunkte an der New Urban Agenda?

Zuerst einmal ist die Agenda eine Ansammlung von ganz vielen wichtigen Punkten und guten Sätzen (zum Beispiel „nobody should be left behind“) geworden. Man wird kaum etwas finden, das fehlt, allerdings ist vieles von einer unverbindlichen Qualität, aus der man keine Regierungsverpflichtungen ableiten kann. Ich finde vor allem enttäuschend, dass die durchaus realistisch erscheinende Hoffnung, die neue Agenda könnte konkrete Anleitungen zur Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele (der SDGs) für den städtischen Raum beisteuern, sich nicht erfüllt hat. Statt sich auf klare Ziele und deren Umsetzung zu konzentrieren, verliert sich der Text der New Urban Agenda in einer Fülle von 175 Absätzen mit weitschweifigen Aussagen, die immer weiter zur Unverbindlichkeit hin verwässert wurden.

Ein zentraler Kritikpunkt der weltweiten Habitat-Netzwerke, also der Habitat International Coalition und der International Alliance of Inhabitants ist, dass bei all den vielen guten Prinzipien nicht gesagt wird, wie man sie umsetzen soll. Daher besteht die Gefahr, dass Grundsätze wie etwa das Ziel inklusiver, lebenswerter Städte („nobody should be left behind“) oder die Verhinderung von Vertreibungen und die Einhaltung von Menschenrechtsstandards – soweit dies überhaupt in einem Nebensatzerwähnt ist – im Leeren bleiben. Die Verknüpfung zwischen Prinzipien und konkreten Bezügen darauf im Bereich der Handlungsanweisungen fehlt in der Agenda.

Zweitens sehen die Habitat-Netzwerke es als Problem, dass HABITAT als umfassendes Konzept, das sich ganz allgemein auf menschliche Siedlungen und deren Entwicklung bezieht, de facto aufgegeben wurde. Nun fokussieren sich die Vereinten Nationen stark auf die aktuelle rasante Verstädterung der Welt und das Thema Stadt. Es hat natürlich eine gute Seite, dass Urbanisierung erstmals als positiver Prozess anerkannt und akzeptiert wird. Andererseits folgt diese Fokussierung auch einem Geschäftsinteresse, da Städte die größten Märkte und dynamischsten Wirtschaftselemente sind. Es wäre aber ein großer Fehler, die ländlichen Räume nicht mehr im Blick zu haben. Die riesige Frage, was überhaupt eine gute und für die Umwelt tragbare räumliche Entwicklung ist, muss in einer Weise behandelt werden, die nicht einfach von „unvermeidbarer Urbanisierung“ ausgeht, sagen die Netzwerke.

Der dritte Kritikpunkt der Habitat-Netzwerke ist, dass die New Urban Agenda inhaltlich nicht auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zurückblickt und sich nicht auf die vorhergehenden Agenden bezieht. Klare menschenrechtliche Elemente und Verpflichtungen für Regierungen, die in der Habitat Agenda aus dem Jahr 1996 noch vorhanden waren, sind nun zugunsten von konsensorientierten Formulierungen weggefallen. Vielleicht ist da noch nicht das letzte Wort gesprochen: wichtig wird noch sein, wie sich die Regierungen in Quito dazu stellen und wie sich die Zivilgesellschaft mobilisiert. Es könnte durchaus sein, dass einige klare Bezüge zum Recht auf Wasser oder zum Recht auf Wohnen weiterhin in der Agenda bleiben.

Warum ist die New Urban Agenda so wenig Thema in Deutschland?

Die deutsche Bundesregierung war im Vorbereitungsprozess auf internationaler Ebene sehr aktiv, hat aber die mit Stadtfragen befasste Zivilgesellschaft in Deutschland nicht angesprochen und auch aus diesen Gruppen der Zivilgesellschaft war weitgehend nur Desinteresse zu spüren. Vor 20 Jahren, bei der zweiten HABITAT-Konferenz, war das noch anders.

Wichtig ist natürlich die Haltung der deutschen Bundesregierung im aktuellen HABITAT-Prozess. In der Tendenz ist es so, dass die Regierung sagt, wir wollen uns bei dieser Konferenz auf Länder konzentrieren, die wirklich große Probleme in der Stadtentwicklung haben, und das ist dann Sache der Entwicklungszusammenarbeit. Daher ist die Federführung für den ganzen Prozess dem BMZ übertragen worden. Das bedeutet eben auch, dass man nur dieses entwicklungspolitische Spektrum anspricht und nicht die Leute, die sich für Stadtentwicklung in Deutschland interessieren, also eine ganz andere Szene. Der Habitat Prozess und die Nachhaltigen Entwicklungsziele beziehen sich aber auf die gesamte Welt, beziehen ganz explizit den globalen Norden mit ein.

Es ist natürlich ebenso eine Frage an die Zivilgesellschaft in Deutschland, denn wir können schließlich auch dort aktiv werden, wo die Regierung das nicht will. Ist es vielleicht Informationsmangel? Ich befürchte stark, dass auch die Medien ihre Artikel zum Thema in entwicklungspolitischen Rubriken subsummieren werden, und dass HABITAT III nicht als Herausforderung für unsere Stadtentwicklung gesehen wird. Nicht nur die Frage, wie man den ökologischen Fußabdruck ganz entscheidend reduziert, wäre ja vor allem etwas, was hier geändert werden muss.

Wie sind die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft an der New Urban Agenda zu bewerten?

Es wurden jede Menge Meinungen und Inputs gesammelt, dafür war eine große Öffnung da und es gab viele Plattformen, auf denen man seine Meinung zu den Papieren der Expertenrunden sagen konnte. Auch da war die deutsche Beteiligung eher schwach. Der Umgang mit den Ergebnissen aus den Inputs war gar nicht schlecht, sie flossen in die verschiedenen Entwürfe der New Urban Agenda ein, die es über die letzten Monate gab. Parallel dazu fanden thematische und regionale Vorbereitungskonferenzen auf jedem Kontinent statt. Auch die Inputs dieser Konferenzen wurden in den verschiedenen  Entwürfen zur Agenda zunächst berücksichtigt. Je mehr sich jetzt die Regierungen in den Prozess einmischen, desto weiter verwässert sich die Agenda.

Einerseits muss man dem Prozess also zugestehen, dass es sehr offene Partizipationsangebote gab. Andererseits hat auf der nationalen Ebene in vielen Ländern keine Beteiligung stattgefunden, gerade von Interessenverbänden, die dabei dann benachteiligte Bevölkerungsteile vertreten können – in formellen Partizipationsstrukturen setzen sich ja meistens die akademisch Gebildeten durch. Die für die Vorbereitung zuständigen Nationalkomitees wurden oft gar nicht eingerichtet oder bezogen solche Interessensvertretungen nicht mit ein wie z.B. in Deutschland den Deutschen Mieterbund, wichtige zivilgesellschaftliche Initiativen, Gewerkschaften etc. Daher bleibt die Frage, ob das für den Prozess zuständige Sekretariat wirklich beanspruchen kann, über die Fachleute hinaus einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung und vor allem die benachteiligten Gruppen miteinbezogen zu haben.

Was darf man sich überhaupt realistischerweise von der New Urban Agenda erwarten?

Es wird auf jeden Fall eine weitere Verwässerung in der Agenda geben, da sollte man sich keine großen Illusionen machen. Vielleicht bleiben noch einige Bezüge zu menschenrechtlichen Schutzbestimmungen bestehen. Idealerweise hätte man gerne klare Aussagen zu den umfassenden Transformationen der Städte, die in den nächsten Jahren anstehen werden: Modernisierung und Anpassung an die Bedürfnisse wachsender Mittelschichten, Anpassung an neue Technologien, an den Klimawandel und Schutz vor Klimafolgen usw. Bei diesen Umwandlungsprozessen sollte immer klar festgelegt sein, dass sie nicht auf dem Rücken der armen Leute ausgetragen werden, also derer, die keine formalen Landrechte haben und die in nicht anerkannten Siedlungen leben. Meine Hoffnung ist, dass die Agenda solche klare Bestimmungen beinhaltet, die die Rechte von Menschen, die unter schwierigen Bedingungen in der Stadt leben, ganz klar schützen. Das wäre der Punkt, der vielleicht noch am ehesten erreichbar ist und auf den sich dann lokale Initiativen beziehen könnten.

Ansonsten ist es gut, dass man wieder über Stadt diskutiert, und es wäre wünschenswert, dass man den Bezug zu den SDGs wieder stärker herstellen kann. Mit ihnen haben wir bereits nachhaltige Entwicklungsziele und müssen jetzt darüber diskutieren, wie wir sie erreichen. Was machen wir mit Menschen in schlechten Wohnsituationen? Wie bekommen wir eine gute Wohnungsversorgung für alle hin? Wie machen wir die Städte lebenswerter? Wie reduzieren wir unsere CO2-Ausstöße? Dazu kommen viele Fragen über die räumliche Entwicklung, und das ist natürlich ein für Deutschland genauso brennendes Thema wie für andere Länder.

Es wäre sehr wichtig, dass die Agenda auch in der deutschen Zivilgesellschaft und bei stadtpolitisch aktiven Gruppen ein größeres Thema wird, um über uns zu diskutieren und über das, was in unseren Städten, Kleinstädten, Dörfern, in unserer Raumstruktur passiert, wie die Lebensbedingungen sind, wie wir sie verbessern können – und das alles mit Blick auf einen Planeten mit begrenzten Ressourcen.

Vielen Dank für das Interview.