Quelle: © Lara Merrington

Abspannwerk Richardstraße, © Lara Merrington

Wer die Richardstrasse in Neukölln schon einmal entlang spaziert ist, dem dürfte jenes eigentümliche und in die Höhe ragende Backsteingebäude schon aufgefallen sein, dass mit seiner Fassade aus geschossübergreifenden kantigen Vertikalschlitzen sich merklich aus der Häuserreihe abhebt. Enorm erscheint die Baumasse, von enormer Bedeutung war auch einst seine bestimmende Funktion im Energiestoffwechsel der Stadt im letzten Jahrhundert. Als eines von zehn Abspannwerken von Hans Heinrich Müller in den Jahren 1926-28 erbaut, sollte es den zunehmenden Bedarf an Strom sichern. „Abgespannt“ wurde der in den Kraftwerken produzierte Strom, um möglichst wenig Leistung auf dem Weg von der Peripherie ins Innerstädtische zu verlieren.

Als Folge des steigenden Energiebedarfs von Industrie, Handwerksbetrieben, öffentlichen Einrichtungen und Stadtbewohnern wurde 1922 im Zuge der Anbindung der Vororte an den Ballungsraum „Groß-Berlin“ ein neues Gesamtkonzept zur Sicherung und Gestaltung der Stromversorgung entwickelt. Als Chefarchitekt und Leiter der Bauabteilung der Berliner Elektrizitätswerke (BEWAG) verantwortete Hans Heinrich Müller von 1924-1930 zahlreiche Um- und Ausbauten bestehender Kraftwerke sowie den Bau von Um- und Abspannwerken, zu denen das Umspannwerk am Paul-Linke Ufer in Kreuzberg und das Abspannwerk Humboldt im Prenzlauer Berg unter anderem zählen. Die größte Herausforderung stellte dabei die Aufgabe dar, die Industriebauten in die bestehende gewachsene Stadtstruktur und die sie umgebende Wohngebäude zu integrieren.

Wie viele seiner Zeit- und Berufsgenossen entwickelte Hans Heinrich Müller die geometrische Ordnung seiner von Schlichtheit geprägten Industriebauten aus dem formgebenden Baustoff des Backsteins heraus.

Dass Müller für seine avantgardistischen Bauten bewusst keine Metaphern industrieller Produktion wählte, sondern sich an die Formsprache sakraler Bauten, persischer Backsteinarchitekturen und Ruinen anlehnte, wird nachvollziehbar, wenn man sich vorstellt, welch eigentümliche Wirkung in ihrem Verhältnis von Außen und Innen diese Gebäude damals entfalteten. Von menschlicher Arbeitskraft nahezu befreit, strömten keine Arbeiterscharen durch die Tore hinein und hinaus. In eine merkwürdige Stille eingehüllt, war vom Lärm der vollautomatischen Hochspannungsanlagen, die die Energiemassen bearbeiteten, auf den Straßen nichts hörbar.

Mit den gesellschaftlichen Transformationen und technischen Erneuerungen im Energiebereich verloren die Bauten allmählich ihre ursprüngliche Nutzung. In den 1980er Jahren wurden die Werke zunächst im Westen, ein Jahrzehnt später im Osten der Stadt vom Netz genommen. Waren im letzten Jahrhundert die Um- und Abspannwerke ein Ort der immateriellen Energiegewinnung, so sind sie es in gewisser Weise noch immer. Heute wird zwar kein Strom umgeschaltet und abgespannt; die Energie, die diese Gebäude mit neuem Leben füllt und im gegenwärtigen Stoffwechsel Berlins eine bestimmende Rolle einnimmt, ist die immaterielle Arbeitskraft der Kunst- und Kulturschaffenden. Der Großteil der von Hans Heinrich Müller im innerstädtischen Raum erbauten Industriebauten wird heute im post-fordistischen Zeitalter durch Kunstinitiativen, Agenturen, Ausstellungshäuser und gastronomische Unternehmen neugenutzt.

Quelle: © Lara Merrington

Ausstellungsraum Abspannwerk Richardstrasse, © Lara Merrington

Die kulturellen und ästhetischen Verflechtungen, die das Abspannwerk in der Richardstrasse äußerlich sichtbar trägt, sind seit kurzem auch Programm im geistigen Innenleben. Im Juni 2013 ist der Projektraum SAVVY Contemporary eingezogen, der sich mit transdisziplinären Ausstellungen, Diskurs- und Performanceveranstaltungen mit dem Verhältnis „westlicher“ und „nicht-westlicher“ Kunst- und Kulturproduktion beschäftigt. Fragen der Repräsentation einer Vielheit unterschiedlicher Praktiken und Strategien in der Kunst sind dabei gleichsam von Interesse wie die Infragestellung homogenisierenden Herkunfts- und Herrschaftsdiskurse.

Ein idealer Ort würde man meinen, an dem sich der 2009 gegründete Projektraum nun angesiedelt, hat, wäre da nicht das noch ungelöste Paradox, dass an der einstigen Schaltzentrale der Energieproduktion, keine Heizung existiert. Den winterbedingten Temperaturen trotzend heißt es nun, den Winter überleben und eine Lösung finden. Wie diese aussehen wird, ist noch ungewiss.

Bar im Abspannwerk RichardstrasseQuelle: © Lara Merrington

Bar im Abspannwerk Richardstrasse, © Lara Merrington

Die aktuelle Ausstellung WAHALA ist noch bis zum 11. Januar zu sehen.

SAVVY Contemporary e.V. – The Laboratory of Forms-Ideas
Reguläre Öffnungszeiten:
Donnerstag – Sonntag 16-19h
Außer Dezember 2013 – Januar 2014
Geöffnet nur samstags 16-19h

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Eylem Sengezer ist freie Kuratorin. Sie lebt und arbeitet in Berlin.