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Station Southgate, London. Fotograf Torsten Seidel

Architekturtouristen, die am Londoner Flughafen Heathrow in die Piccadilly Line steigen, kommen gleich auf ihre Kosten: Die U-Bahnhöfe Osterley, Boston Manor, Northfields und Acton Town gehören zu den Ikonen der sog. Klassischen Moderne in England. Ein kurzer Stopp an jeder Station lohnt sich. Denn obwohl ihr Architekt Charles Holden einen Grundtypus entworfen hatte, gleicht kein Bahnhof dem anderen. Der aufmerksame Europäer, wie der Engländer zu sagen pflegt, wird sich bei so manch einem Detail an die Heimat erinnert fühlen.

Charles Holden hatte über 50 U-Bahnhöfe in den 1920er und 1930er Jahren entworfen. Viele folgen dem von ihm entworfenen Grundtypus, doch andere unterscheiden sich gänzlich. Zu ihnen gehört der Verkehrsknotenpunkt Southgate. Er entstand 1931 – 1933 und fällt durch seine architektonische Form und seinen städtebaulichen Ansatz auf. In bemerkenswerter Weise löste Holden das Problem des Eckgrundstücks: Im Zentrum der Gesamtanlage befindet sich ein Empfangsgebäude in Form eines kreisrunden Pavillons. Auf südwestlicher Seite wird es von der Busfahrbahn geradezu umflossen. Diese dynamische Form wird von der Ladenzeile aufgenommen, in die außerdem Personal-, Warte- und Toilettenräume integriert sind. An beiden Enden der Zeile sind abschließende Rundkörper angefügt.

Die geschwungenen Bauformen von Southgate erinnern nicht zu unrecht an die dynamischen Entwürfe von Erich Mendelsohn. Anlässlich der Stockholm Ausstellung 1930 war Holden gemeinsam mit seinem Auftraggeber Frank Pick, einem der leitenden Vertreter der damaligen London Underground Group, durch Europa gereist. Viele der architektonischen Details lassen sich auf diese Reise zurückführen. Doch 1931 fuhr Holden nach Berlin. Auf seinem Besichtigungsprogramm stand, wie bei nahezu allen englischen Architekten, das Kino Universum von Erich Mendelsohn.

Mendelsohn galt in England als der ‚Architekt der horizontalen Linie’. Erstmals war er 1923 von einem deutsch-amerikanischen Kritiker vorgestellt und die wichtigsten seiner Kernpunkte genannt worden. 1925 ließen sich die Engländer von Mendelsohns Einsteinturm als reiner Betonskulptur und deren außergewöhnlicher Kurvatur täuschen. Doch waren es seine Stahlbetonkonstruktionen, die er mit Klinkerfassaden kombinierte und die in England letztlich überzeugten. Das Fassadenmaterial entsprach nicht nur den dortigen klimatischen Bedingungen, sondern auch den Vorstellungen der vielmehr konservativ eingestellten englischen Auftraggebern. 1930 war Mendelsohn in England bereits so bekannt, dass sich in einer Illustration einer englischen Fachzeitschrift der entwerfende Architekt nachdenklich fragt: „What would Erich Mendelsohn do?“

Auch Holden, der selbst bekennender Funktionalist war, wurde zu einem der größten Verehrer Mendelsohns. Dessen dynamischer Funktionalismus begeisterte ihn. Holdens Entwürfe hatten bislang in der klassizistischen Tradition gestanden. Doch nach seiner Berlinreise übernahm er die Prinzipien des deutschen Architekten für das Ensemble von Southgate. 1932 beschreibt Holden es schließlich selbst als „Experiment im stromlinienförmigen Planen“.

Mendelsohns Kontakte und sein Bekanntheitsgrad waren in seinem folgenden britischen Exil für ihn von großem Vorteil. Und so schrieb er vor genau 75 Jahren in der vorweihnachtlichen Zeit an den englischen Architekten: „My dear Holden, It may interest you, that we have just become British full citizens. We are happy.“

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Die Autorin Ulrike Weber promovierte zum deutsch-englischen Austausch während der Zwischenkriegszeit am Beispiel der Londoner U-Bahnhöfe, ist Dozentin am Fachbereich Architektur der TU Kaiserslautern und leitet gemeinsam mit dem Architekten Peter Spitzley die Architekturgalerie Kaiserslautern.

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Station Southgate, London. Fotograf: Torsten Seidel

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Station Southgate, London. Fotograf: Torsten Seidel