von Gastautorin Sabine Kock

Farbstudie zur Haltestelle Lohmühlenstraße. Collage, Fritz Trautwein, 1960. Hamburgisches ArchitekturarchivQuelle: Hamburgisches Architekturarchiv

Farbstudie zur Haltestelle Lohmühlenstraße. Collage, Fritz Trautwein, 1960.
Hamburgisches Architekturarchiv

Sie war das erste Prestigeprojekt der Hamburger Verkehrsplanung nach dem zweiten Weltkrieg. Lichte Farben, schlichte Sachlichkeit und prägnante Details begleiteten die Fahrgäste auf dem Weg in ein neues Zeitalter. Doch anders als die historischen Vorgänger aus Historismus, Jugendstil und klassischer Moderne, werden die Stationen heute nicht sensibel erhalten oder denkmalgerecht saniert. Rücksichtslos verhindern funktionale Erneuerungen und vermeintlich moderne Umgestaltungen ein jüngeres historisches Bewusstsein.

Vom Jungfernstieg bis Wandsbek-Gartenstadt

Eröffnung der Umsteigeanlage am Wandsbek Markt. Unter den Faltdächern sind die Baukörper von Service- und Abgangsbereichen frei angeordnet. Heinz Graaf, 1962. Bildquelle: Hamburgisches ArchitekturarchivQuelle: Archiv der Hamburger Hochbahn AG

Eröffnung der Umsteigeanlage am Wandsbek Markt. Unter den Faltdächern sind die Baukörper von Service- und Abgangsbereichen frei angeordnet. Heinz Graaf, 1962.
Bild: Archiv der Hamburger Hochbahn AG

1955 wollte Hamburg Zeichen setzen. Zehn Jahre nach Kriegsende war die Stadt im Aufbruch und der Wille zur Erneuerung spiegelte sich in den Wiederaufbauplänen, bei denen die Mobilität eine entscheidende Rolle spielte. Dem Umbau zur autogerechten Stadt entsprachen auch die Erweiterungspläne für das U-Bahnnetz, das zur Entflechtung der Verkehrsströme beitragen sollte und so fiel die Entscheidung für die erste Streckenerweiterung nach dem Krieg auf den Neubau der „Wandsbeker Linie“. Dafür wurde die Endhaltestelle Jungfernstieg durchstochen und eine neue Strecke bis zur vorhanden Haltestelle Wandsbek-Gartenstadt geführt.

Flaggschiff der Hamburger U-Bahn nach dem Krieg

Haltestelle Alter Teichweg von Fritz Trautwein, 1963. Collage als Farbstudie. Hamburgisches Architekturarchiv

Haltestelle Alter Teichweg von Fritz Trautwein, 1963. Collage als Farbstudie. Bild: Hamburgisches Architekturarchiv

Die Linie war das Flaggschiff der Hamburger U-Bahn in der Zeit des Wirtschaftswunders. Bewusst beauftragte man freie Architekten und verteilte die Gestaltung der 11 Haltestellen an die Büros Schramm+Elingius, Rübcke, Sandtmann+Grundmann und Trautwein. Man wünschte sich für die Gestalt der neuen Haltestellen nicht weniger als einen Ausdruck, dessen zukunftsorientierter Geist einem neuen Lebensgefühls entsprechen sollte. Zum ersten Mal wurde die Planungshoheit von der Hochbahn an die Baubehörde der Stadt übergegeben. In der neuen Hauptabteilung U-Bahn-Neubau konnten alle Architekten schon früh mit den Ingenieuren zusammenarbeiten und so wurden Gestaltungsideen zu Raumprofil, Stützen- und Grundrissformen schon in die Rohbauphase eingebracht.

Passagen unter der Erde

Links der Grundriss der Schalterebene und Straßenunterführung der Haltestelle Ritterstraße von Sandtmann und Grundmann, 1962. Rechts die Grundrissgestaltung von Hans Christoph Rübcke in der Station Wartenau, 1962.. Bauwelt, Heft 31, 1963, S. 884-885Quelle: Bauwelt 1963.

Links der Grundriss der Schalterebene und Straßenunterführung der Haltestelle Ritterstraße von Sandtmann und Grundmann, 1962. Rechts die Grundrissgestaltung von Hans Christoph Rübcke in der Station Wartenau, 1962.
Quelle: Bauwelt, Heft 31, 1963, S. 884-885

Zur autogerechten Stadt gehörte die Vorstellung, dass die oberirdischen Verkehrsstraßen und Kreuzungen vom Fußgängerverkehr frei zu halten seien, auch gab es nicht überall Ampelanlagen. Da die Stationen unterhalb von Straßen und in Kreuzungsbereichen lagen, erweiterte man die Zwischenebenen der Schalterhallen mit Tunnelsystemen, die zu Unterführungen für die Fußgänger wurden. Mit Vitrinen und Läden ausgestattet sollten diese unterirdischen Räume zu attraktiven Passagen werden. Die architektonisch interessante Aufgabe bestand also darin, neben der Gestaltung und Ausstattung der Bahnsteigsbereiche, die Räume der Passagen mit den Schalter- und Sperranlagen störungsfrei zu koppeln, die Fahrgast- und Passantenströme zu lenken und ihnen als Kunstlichträume Attraktivität zu verleihen.

Faltungen, Formen und Farben

Die Haltestelle Wandsbeker Chaussee kurz vor der Eröffnung 1961. Die Farben blau und weiß bestimmen die Raumhülle, während ein kräftiges Rot und tiefes Schwarz als Kontrast das Mobiliar und die Ausstattung gliedern. Fritz Trautwein, 1962 Bildquelle: Archiv der Hamburger Hochbahn AGQuelle: Archiv der Hamburger Hochbahn AG

Die Haltestelle Wandsbeker Chaussee kurz vor der Eröffnung 1961. Die Farben blau und weiß bestimmen die Raumhülle, während ein kräftiges Rot und tiefes Schwarz als Kontrast das Mobiliar und die Ausstattung gliedern. Fritz Trautwein, 1962.
Bilder: Archiv der Hamburger Hochbahn AG

Im Gegensatz zu anderen Städten legte Hamburg Wert auf die Individualität der Haltestellen, die so die Attraktivität der sehr langen Strecke steigern sollte. Die Architekturbüros arbeiteten die funktional erforderlichen Elemente von Roh- und Ausbau unterschiedlich aus, erzeugten dabei aber einen übergeordneten gemeinsamen Zusammenhang. Die notwendigen Betonstützen in der Mitte des rechteckigen Tunnels bekamen unterschiedliche Querschnitte, waren rund, sechs-, achteckig oder y-förmig geformt, waren farbig gestrichen oder erhielten eine bestimmte Oberflächenstruktur. Zur Schallreduktion und Installationsverkleidung wurden abgehängte Decken vorgegeben, die unterschiedlich gefaltet und mit integrierten Beleuchtungskörpern die Wirkung der verschiedenen Stationen entscheidend prägten. Bei der Verwendung von Spaltplatten für die Wände, stellte die Industrie Farbpaletten zur Verfügung, die die Architekten entweder monochrom oder durch den Einsatz einer graphischen Struktur in zeittypisch lichtem oder kräftigem Spektrum verwendeten. Auch die wiederkehrende Möblierung der Haltestellen mit Bänken, Informationstafeln, Werbewänden und Kiosken wurden von den Architekten speziell für jede Haltestelle entworfen und gaben der einzelnen Station damit eine stringente Gesamterscheinung. Für die Zwischenebenen komponierten die Architekten polygonal geformte Raumausbauten, die das meist rechteckige Rohbauprofil unterschiedlich rhythmisierten und deren Passagen durch die Transparenz und Formung der Ladenfassaden raumhohe Lichtkörper erhielten. Als öffentliches Bauwerk profitierte zudem jede Haltestelle von dem Hamburger „Kunst am Bau“-Programm und erhielt eine speziell angefertigte künstlerische Arbeit.

Selbstbewusstsein, Tradition und Corporate Identity

Eine dünne Stahlbetonkuppelschale ruht auf fünf Stützen und überspannt frei die Abgangsbauten der Haltestelle Lübecker Straße. Sandtmann und Grundmann mit Stefan Polónyi, 1961 Bildquelle: Archiv der Hamburger Hochbahn AGQuelle: Archiv der Hamburger Hochbahn AG

Eine dünne Stahlbetonkuppelschale ruht auf fünf Stützen und überspannt frei die Abgangsbauten der Haltestelle Lübecker Straße. Sandtmann und Grundmann mit Stefan Polónyi, 1961.
Bild: Archiv der Hamburger Hochbahn AG

Mit den Jahren verging der Glanz des einstigen Selbstbewusstseins. Das Neue war überkommen, sich verändernde stadträumliche, wirtschaftliche und funktionale Anforderungen führten zu unterschiedlichen Renovierungsphasen, neue Möblierungen fielen den sich wandelnden CI-Konzepten und neuen baulichen „Normalien“ zum Opfer und die Rückbesinnung auf eine Traditionsverbundenheit endete bisher mit den Verweisen auf die historische Ringlinie und die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg. Dabei geht die Hochbahn durchaus sorgsam mit ihren Bauten um, allerdings beschränkt sich die denkmalpflegerische Einbindung eben meist auf Bauten aus den Anfängen der Hochbahnzeit und vor allem auf die stadtbildprägenden Bauten der oberirdischen Bahnhöfe und Viaduktstrecken. So stehen denn bei der „Wandsbeker Linie“ auch nur Teile der Haltestellen Lübecker Straße und Wandsbek Markt unter Denkmalschutz. Beide Haltestellen haben als einzige der Linie eben auch markante oberirdische Bauwerke. An der Lübecker Straße haben die Architekten Friedhelm Grundmann und Horst Sandtmann mit dem Statiker Stefan Polónyi eine flache Kuppelschale aus Stahlbeton entwickelt, die auf fünf Stützen ruhend die Schalteranlagen und Abgänge frei überspannt. 1961 war die Schale mit nur 8 cm Materialstärke eine kleine Sensation. Und am Wandsbek Markt wurde bei Umbaumaßnahmen an der Busumsteigeanlage zumindest das grazile Faltdach von Heinz Graaf erhalten und in die Neuplanungen mit einbezogen.

„Lifting“ in der Vertikalen

Einer der individuellen Fernhinweismasten auf Straßenebene. Die Leuchtform als U entwickelte sich ungleich zu der heutigen Normalie als freie Form des Buchstabens auf einem schlichten Vierkant-Winkel. Entwurf Fritz Trautwein, 1961. Zeittypische Wartebänke als kommunikative Inseln im Raum. Entwurf und Ausführung Sandtmann und Grundmann, 1962 Bildquellen: Hamburgisches Architekturarchiv und Archiv der Hamburger Hochbahn AGQuelle: Hamburgisches Architekturarchiv und Archiv der Hamburger Hochbahn AG

Einer der individuellen Fernhinweismasten auf Straßenebene. Die Leuchtform als U entwickelte sich ungleich zu der heutigen Normalie als freie Form des Buchstabens auf einem schlichten Vierkant-Winkel. Entwurf Fritz Trautwein, 1961. Zeittypische Wartebänke als kommunikative Inseln im Raum. Entwurf und Ausführung Sandtmann und Grundmann, 1962.
Bilder: Hamburgisches Architekturarchiv und Archiv der Hamburger Hochbahn AG

Die unterirdischen Haltestellen haben es ungleich schwerer. Während Stationen wie etwa der Klosterstern aus dem Jahr 1929 schon in den 1980er Jahren weitgehend denkmalgerecht restauriert und sogar Mobiliar originalgetreu angefertigt wurde, um die Gesamtkomposition wieder herzustellen, kann die „Wandsbeker Linie“ von solch einem Bewusstsein nur träumen. Die ursprünglichen Ausstattungsdetails wie Leuchtkörper, Bahnsteigbänke, Kioske und Zugabfertigerhäuschen sind weitestgehend verloren. Passagenbereiche sind ungenutzt und Unterführungsanlagen teils rückgebaut. Digitale Werbeprojektionen verdrängen die ausgedienten Plakatwände und in einigen Stationen wurden die Wandfliesen verändert oder mit neuen Materialien überzogen. Der einstige kühne Charme einer einheitlichen Kette mit individuellen Perlen hat sich aufgelöst in ein ästhetisches Durcheinander. Seit 2012 nun betreibt die Hamburger Hochbahn ein ehrgeiziges Lift-Programm, das vom Hamburger Senat gefördert wird. Gemeint ist der barrierefreie Ausbau der Haltestellen mit Fahrstühlen, eine Maßnahme, die sicher vollumfänglich zu begrüßen ist. Nur wird dabei eben nicht jede Umbaumaßnahme unter Einbeziehung des Denkmalschutzamtes vorgenommen oder die eigene Geschichte neu bewertet.

Im Turbo ohne Denkmalschutz

Haltestelle Alter Teichweg von Fritz Trautwein, 1963. Blick von der Zwischenebene auf die Rückseite der schwebenden Haltestellenwärterkanzel. Auch die abgehängten Leuchtkörper über der Treppe und eine filigrane Wartebank sind zu erkennen. Hamburgisches ArchitekturarchivQuelle: Hamburgisches Architekturarchiv

Haltestelle Alter Teichweg von Fritz Trautwein, 1963. Blick von der Zwischenebene auf die Rückseite der schwebenden Haltestellenwärterkanzel. Auch die abgehängten Leuchtkörper über der Treppe und eine filigrane Wartebank sind zu erkennen. Bild: Hamburgisches Architekturarchiv

Für die „Wandsbeker Linie“ wird in diesem Jahr der »Turbo-Gang« eingelegt, wie die Hamburger Hochbahn auf ihrer Internetseite vermeldet, soll heißen gleich »sechs auf einen Streich«. Auf allen restlichen Haltestellen der Linie, die noch nicht umgebaut sind, werden die Planungen in diesem Jahr umgesetzt und die Bauarbeiten bis 2019 abgeschlossen sein. Damit wird auch eine der außergewöhnlichsten Haltestellen massive chirurgische Eingriffe erfahren, ohne dass der Denkmalschutz die Planungen begleitet: Die Haltestelle Alter Teichweg von Fritz Trautwein ist die einzige der Strecke, deren Bahnsteige nicht mittig, sondern seitlich an der Wand in einer überhohen Halle geführt werden. Dies ermöglichte die Anlage einer Haltestellenwärterkanzel, die mit einem schmalen Steg von der oberen Zwischenebene kommend auf einer Stütze im Luftraum der Halle schwebt. Im Umbau bedeutet das nun den Einbau von mehreren Fahrstuhlanlagen im Erschließungsraum der Station und Luftraum der Halle. Immerhin soll die schwebende Kanzel erhalten bleiben, wohl aber weniger aus Wertschätzung ihrer Besonderheit, sondern weil ohne den Rückbau ein finanzieller und logistischer Mehraufwand vermieden werden kann. Schade, dass anders als im Möbeldesign, die Haltestellen der 1960er und 1970er Jahre noch nicht als „moderne Klassiker“ gelten. Bleibt zu hoffen, dass die Idee von Selbstbewusstsein und Tradition der Hamburger Hochbahn nicht ewig auf die Zeit vor 100 Jahren festgeschrieben wird.

Sabine Kock, Dipl.-Ing., ist Architektin und Autorin. Sie studierte in Hamburg Architektur, war wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studiendekanin im Fachbereich Design der Hochschule Fresenius und arbeitet in freier Projektarbeit, beispielsweise für Veranstaltungen zur Architektur für die Freunde der Kunsthalle in Hamburg.