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Video via: Rad-Spannerei

Die englische Video-Journalistion Sonia Gil reist um die Welt und porträtiert die Besonderheiten der von ihr besuchten Orte. In Berlin ist das der Radverkehr! Das Video ist ein weiteres schönes Beispiel dafür, dass der in den letzten Jahren stark angestiegene Radverkehr in der Berliner Innenstadt mit dem Blick von Außen als etwas Besonderes wahrgenommen wird. Weitere Beispiele für diese positive Spiegelung der eigenen Radverkehrs-Realität sind der im Jahr 2011 erschienene – und geradezu euphorische – Artikel Berlin’s Striking Cycling Renaissance auf dem San Francisco Streetsblog sowie der durchaus beachtliche – wenn auch nicht unbedingt wissenschaftlich fundierte – fünfte Platz beim “Bicycle Friendly City”-Index von Copenhagenize Consulting.

Was sagt uns das? Im persönlichen Gespräch und auch in den Medien bekommt man immer wieder den Eindruck, dass die Selbstwahrnehmung in Berlin anders ist. Jedenfalls wird viel gemeckert und kritisiert oder bestenfalls alles als ganz normal empfunden. Gemeckert wird über den Zustand des Berliner Radwegenetzes, die Radverkehrspolitik im Allgemeinen, den Berliner Autofahrer im Speziellen, usw. Dabei helfen die Außenperspektive und der Blick auf ein paar Zahlen, Fakten und Eindrücke, um die Situation angemessener zu beurteilen:

  • ca. 40 % der Berliner Haushalte besitzen kein eigenes Auto, in einigen Innenstadtquartieren liegen die Werte bei unter 200 Autos auf 1.000 Einwohner (Bundesdurchschnitt ca. 550 Autos/1.000 EW).
  • von 1998 – 2008 ist der Anteil des Autoverkehrs am Modal Split von 38 % auf 32 % gesunken.
  • von 1998 – 2008 ist der Radverkehrsanteil von 10 % auf 13 % gestiegen, in einigen Stadtteilen liegen die Werte zwischen 15 und fast 25 % (diese und weitere Zahlen gibt es in umfangreichen Dokumenten der Senatsverwaltung nachzulesen).
  • Der Berliner Senat verfolgt mit seinem Stadtentwicklungsplan Verkehr das Ziel, den Anteil des Umweltverbundes bis 2025 auf 75 % zu steigern.
  • Ein großer Vorteil Berlins gegenüber anderen Großstädten sind die breiten Straßenquerschnitte. Das macht die notwendige Neuaufteilung des öffentlichen Verkehrsraumes zu Gunsten des Fahrrades etwas einfacher.
  • Bei der Fahrradmitnahme im Nahverkehr ist Berlin absolute Weltspitze. Es gibt keine Sperrzeiten, täglich werden bis zu 60.000 Fahrräder transportiert.
  • für sehr viele Berlinerinnen und Berliner – und übrigens auch die meisten Urbanophilen – ist das Fahrrad bereits heute das am meisten genutzte Verkehrsmittel. Nicht weil es so umweltfreundlich ist, sondern weil es meist das schnellste und effektivste Verkehrsmittel ist, A2Bism hat das Mikael Colville-Andersen genannt. Diese Erkenntnis ist ansteckend und wird sich weiter durchsetzen.
  • auch in den Medien findet ein Umschwung statt: Am deutlichsten ist das am Berliner Tagesspiegel zu beobachten, wo die Anzahl der (objektiv reflektierten) Artikel über Radverkehr deutlich zugenommen hat. Es gibt sogar eine eigene Rubrik für das Thema Fahrrad und richtig schöne Fotostrecken, die das Fahrrad bzw. den Radverkehr positiv darstellen.

Natürlich ist nicht alles rosig in Berlin. Der neue Senat hat soeben – man mag es kaum glauben – den Etat für Baumaßnahmen an Radwegen gekürzt, obwohl es im letzten Jahr sogar steigende Unfallzahlen gegeben hat. Auch unabhängig von dieser Nachricht ist das größte Berliner Problem, dass es sowohl an Geld, als auch ausreichend qualifiziertem Personal fehlt, um die Herausforderungen angemessen anzugehen. Viele der Fachplanungen liegen in den Bezirken, die jeder für sich eine eigene Großstadt sind. Weil Radverkehr jahrzehntelang nicht als eigenständiges Planungs-, geschweige denn Politikfeld wahrgenommen wurde,  ist die Qualität der Infrastruktur ausgesprochen unterschiedlich und der Nachholbedarf riesig.

Doch trotz der beschriebenen Probleme und Kritik: Zweifelsohne nimmt der Radverkehr in einigen Teilen der Berliner Innenstadt  – zumindest im Sommer – Kopenhagener Ausmaße an. Das ist auch den Planungen der letzten Jahre zu verdanken, aber – im Gegensatz zu Kopenhagen – nicht nur. In Berlin überholt vielmehr die gesellschaftliche Entwicklung die politische und planerische Realität. Was fehlt, ist der unbedingte politische Wille und Mut auf oberster Ebene, den Berliner Radverkehr mit einem konzentrierten 10-Jahres-Plan auf ein neues Niveau zu heben: Durch eine konsequente und koordinierte Weiterbildung und Qualifizierung von Mitarbeitern sowohl im Senat, als auch auf Bezirksebene, durch schnellere Lückenschlüsse im Radwegenetz, durch die konsequentere Entschärfung von Unfallschwerpunkten, durch noch stärkere Priorisierung bei der Neuaufteilung von Straßenquerschnitten (die nicht zu Lasten des Busverkehrs gehen sollten und durchaus noch häufiger zu Lasten des ruhenden MIV), durch weitere Maßnahmen zur Geschwindigkeitsreduzierung (Stichwort “Tempo 30”) und auch durch eine höhere Qualität der Radverkehrsinfrastruktur, denn Fahrradstreifen sind zwar vergleichsweise günstig aber auch nicht immer das nonplusultra.

Um nicht missverstanden zu werden: In all den genannten Themenbereichen ist der Berliner Senat und sind die meisten Bezirke aktiv. Es passiert schon einiges. Nur eben nicht genug und mit entsprechendem politischen Willen würde vermutlich mehr möglich sein. Das ist sehr schade, denn aktuell ist der Zeitgeist sehr passend. Derzeit findet nämlich ein weit verbreiteter Mentalitätswandel im Kopf statt, der u. a. als Revolution auf zwei Rädern auf Berliner Straßen beobachtet werden kann. Die Außenperspektive dieses Videos verdeutlich sehr schön, wie weit Berlin da offenbar schon vorangeschritten ist.

Die Themen und Inhalte dieses Artikels finden sich auch, noch etwas ausführlicher, in einem Artikel von urbanophil-Autor Tim Birkholz für das Magazin Fahrstil wieder. Berlin im Vergleich zu den Städten München, Hamburg und Kopenhagen, im Kontext von nationaler Radverkehrspolitik und -planung in Deutschland und den Niederlanden.