// Gastbeitrag von Georg Jahnsen aus Mumbai //

IndischeKreuzung
Indische Kreuzung (Fotograf: Georg Jahnsen)

In einem der vergessenen Stadtviertel Mumbais, an diesem einen Sonntag, an dieser einen Kreuzung, passierte es mal wieder, dass nichts mehr ging. Autos, Rickshaws, Handkarren, Kühe, Ziegen, herumstehende und herumliegende Gegenstände und jede Menge Menschen waren plötzlich ineinander verkeilt ohne sich dabei zu berühren. Respektvolles ineinander verkeilt sein. Es wurde mit den Händen gefuchtelt und Lärm veranstaltet. Normalerweise hilft dies beim eigenen Vorankommen in Mumbai. Nicht so an diesem Tag und an dieser Kreuzung. Am Schluss versuchte jeder noch die letzten paar freien Zentimeter vor sich zu gewinnen. Doch dadurch wurde die Situation nur noch vertrackter. Die letzten möglichen Lücken, die noch als Auswege hätten benutzt werden können, schlossen sich. Ein letztes allgemeines Hupen und Rufen bäumte sich auf. Und dann wurde es still.

Wo zwei Wege sich kreuzen, begegnen sich Menschen. Kommunikation und Interaktion finden statt. Konsens und Kompromisse müssen gefunden werden. Das Individuum interagiert mit der Gemeinschaft. Eine Kreuzung gehört vielleicht zu den besten Orten, die gesellschaftliche Zusammenhänge preisgeben. Wie gehen die Menschen mit Regeln um? Wie bringen sie ihre eigenen Interessen des persönlichen Vorankommens mit den abstrakten Interessen der Allgemeinheit in Einklang?

Jeder Einzelne begriff in dieser Sekunde, dass sein eigenes Vorankommen außerhalb seiner eigenen Macht lag. Plötzlich war es da, dieses Verantwortungsgefühl für die übergeordnete Instanz des großen Knotens aus Menschen und Blech und Müll und Tieren. Die ersten Blicke lösten sich vom stieren Geradeaus, vom stumpfen aufs eigene Ziel gerichtet sein. Augen erkundeten die Umgebung, die ganze Situation und den Nachbarn, der ebenso eingeklemmt war wie man selber. Und plötzlich geschah das Wunder: Objekte begannen sich rückwärts zu bewegen. Platz entstand. Zuvor mühsam erkämpfter Raum wurde an die Kreuzung zurückgegeben. Der Knoten löste sich langsam auf.

Die Art, wie der Mumbaiker eine Kreuzung durchquert, lässt sich übertragen auf die Art wie das gebaute Mumbai funktioniert. Die Stadt als gebaute Umgangsform: Raum wird radikal angeeignet. Übergeordnete gemeinschaftliche Interessen werden gerne missachtet. Und dies wird von allen gesellschaftlichen Schichten so praktiziert. Während der Multimillionär mit einer neuen Hochhaus-Stahlbeton-Wohnanlage mal eben ein historisches Wohnviertel ruiniert, okkupieren die Massen der Ärmsten jeden Quadratmeter freien Stadtraum mit ihren Spontanarchitekturen. Gegenseitige Beachtung, Verständnis und übergeordnete Regeln, auf denen die gesamte Gemeinschaft fußen könnte, gibt es entweder nicht oder sie werden mit geeigneten Mitteln von einzelnen Akteuren stetig ausgehebelt.

So bleibt auf der Kreuzung wie in der gebauten Stadt die einzige Konstante das tägliche anarchische Chaos mit dem sich die Menschen arrangieren müssen. Und nur dann und wann beschert der Zufall Situationen in denen ein gemeinsames Ziel erreicht wird.