Art House, gestaltet von Thomas Rehberger, auf der japanischen Insel Teshima.Quelle: Christian Kloss

Art House, gestaltet von Thomas Rehberger, auf der japanischen Insel Teshima.

August. Um 6.25 geht die Fähre nach Teshima, der Tag hat seine volle Hitze bereits erreicht. 35 Grad Celsius, 100% Luftfeuchte und eine Art Brise vom Pazifik hüllen die Wartenden ein. Es stehen japanische Besucher mit hellen Strohhüten und weißen Sonnenschirmen entlang der Markierung in einer Reihe, irgendwo stehen ein paar europäische Touristen herum. Die meisten folgen dem Rat des außerordentlich detaillierten Official Guidebook der Setouchi Triennale 2016 und tragen ebenfalls Hut, Handtuch um den Nacken und Rucksack auf dem Rücken. Die weiße Fähre legt an. Es sind weniger die in der Umgebung des Fährterminals angebrachten großformatigen Fotos von Häfen aus aller Welt – kleine Vorboten der Kunst, die uns auf den Inseln erwarten sollte – als das rostig-schaukelnde Quietschen des Schiffes, das in jedem von uns eine heimatliche Hafenerinnerung weckt und den Ort internationalisiert.

Bahnhof Uno Port, Gestaltung für die Triennale von Esther Stocker, 2016Quelle: Christian Kloss

Bahnhof Uno Port, Gestaltung für die Triennale von Esther Stocker, 2016

Der Fährhafen mit dem so vertraut klingenden Namen Uno Port liegt in der japanischen Kleinstadt Tamano, an der Pazifikküste Honshus in der Präfektur Okayama, ziemlich genau in der Mitte zwischen Osaka und Hiroshima an der Seto Inlandsee. In der Provinz also, an einem besonders schönen Ende der Welt. Das auf Schiffbau spezialisierte Tamano gibt es erst seit 1940, das Dorf Uno hat seit dem 16. Jahrhundert einen kleinen Hafen und lebte einst von Salzherstellung und Fischfang. Der heutige Hafen mit der zugehörigen Eisenbahnstrecke JR Uno-Line ging 1910 in Betrieb. Später wurde der Hafen zum Militärstützpunkt und zählte noch 1951 als Handelsplatz zu den bedeutenden Häfen des Landes. Von Uno Port kann man Takamatsu erreichen, die Hauptstadt der südlich gelegenen Insel Shikoku, eine der Hauptinseln, aus denen Japan besteht. Und man erreicht zwölf kleinere bis kleinste Inseln, auf denen 2016 zum dritten Mal das Kunstfestival Setouchi Triennale stattfand.

No one wins - Multibasket von Lobet & Pons, Spanien, 2013

No one wins – Multibasket von Lobet & Pons, Spanien, 2013

So früh am Morgen ist Teshima noch ganz still, einige Großeltern versammeln sich um die Getränkeautomaten, gießen ihre Tomaten und freuen sich über den Besuch aus Europa. In Christian Boltanskis Archives du Coeur am Meer speichern wir unseren Herzschlag, werfen ein paar Bälle, ergeben uns der bittersüßen Verlockung der Selfie-bezogenen Freizeitgesellschaft im Lemon Hotel (Smiles:, Japan, 2016), betrachten wandernde Wassertropfen und finden uns zuletzt in einem endlos tiefen und hohen Brunnen aus internationalen Postkarten wieder (Tadanoro Yokoo & Yuko Nagayama: Teshima Yokoo House, 2013). Licht, Sonne, Farbe und wie stets die Illusion, hier die vom touristischen Erfolg: saures Zitroneneis aus lokalen Inselzitronen, Triennale Schweißtücher und Zitronensaft.

Tamano

Kanal in Tamano mit Blick auf den Fährhafen Uno Port.

Die ländlich sowie industriell geprägte Region ist stark von Schrumpfung und Alterung betroffen, auf den Inseln und in Tamano stehen Häuser leer, Industrieanlagen liegen brach, öffentliche Räume sind verwaist. 2006 begannen die Vorbereitungen für die Etablierung einer Triennale, die helfen sollte, die Regionalentwicklung mittels Tourismus zu stärken. Eine enge Zusammenarbeit der lokalen Städte und Dörfer, die aktive Einbeziehung der Bewohner, und die Auseinandersetzung der lokalen und internationalen Künstler mit der regionalen Kultur, Geschichte und Topografie wurden jahrgangsübergreifende Leitthemen der Triennale.

Quelle: Verena Pfeiffer-Kloss

Im Hafen von Megijima.

Eine adrette rote Fähre bringt die Besucher von Takamatsu nach Ogijima und Megijima. Ein stummer Flügel (20th Century Recall, Hagetake Funjo, 2010) begleitet das Plaudern der Plastikmöwen (Sea Gulls Parking Lot, Takahito Kimura, 2010) und segelt auf den Spuren des 20. Jahrhunderts, Bonsais schweben, ein paar Kinder schwimmen ins Meer hinaus und Akinori Matsumoto kreiiert ein Windspiel aus Licht, Schatten und tröpfelnden Bambusklängen (Akinorium, 2016). Sie erinnern an das helldumpfe, rasche Tippeln der jungen Japaner in Getas und Kimonos, deren leichtes Schweben Bodenhaft bekommt in der perfekten Imagination eines US-amerikanischen Kinos der 50er Jahre (Yoichiro Yoda, Island Theatre Megi, 2016), das auch außerhalb der Triennale Saison manchmal einen Film für die Bewohner bereithält oder in der Sanierung einer Schule zu einem grün-orangen Kreativlabor. Das Fehlen der jungen Menschen auf der Insel erhält ein Bild in der verstörenden Presence of Absence (2010), die der Argentinier Leandro Erlich in einem umgenutzen Wohnhaus realisierte – eine Illusion so beiläufig, so schnell übersehbar, so leise, dass sie im Gedächtnis bleibt. Fußspuren im Sand, ein unsichtbarer Gegenüber im Restaurant, ein falscher Spiegel.

Umgenutzte Schule auf Megijima

Umgenutzte Schule auf Megijima

Um ein altes Holzhaus auf Teshima stürmt, gewittert und regnet es, dass die Balken krachen und die Lampen blitzen, in einem Haus auf Megishima entfaltet die Sonne ihr mystisches Licht in 10.000 Spiegelsplittern, in der Chaos Lounge steht ein hellblaues Zimmer leer und bei Takeshi Kawashima & Dream Friends verschmilzt der Besucher im geliehenen Kimono mit dem Interieur des leeren Hauses. Dies sind nur Beispiele einer reichen Befüllung leergefallener Orte mit japanischer und internationaler Kunst, mit denen die Region Seto ihre Endlichkeit durch freudvolle Schönheit ästhetisiert und zum Genuss anbietet. Viele der mehr als 200 Kunstwerke, Museen und Ausstellungen, die der Katalog der 2016er Triennale ausweist sind Plastiken im öffentlichen Raum, neue Fährterminals, Informationsboxen oder kleine Bauten, die auch nach der Triennale am Ort verbleiben.

Teshima Art Museum, Architekt: Ryue Nishizawa, 2010

Teshima Art Museum, Architekt: Ryue Nishizawa, 2010

Der Ursprung der Transformation zur Kunst liegt auf der am nächsten zu Uno Port gelegenen Insel Naoshima. Bereits 1985 trafen sich dort der im nahen Okayama geborene und wirkende Tetsuhiko Fukutake, Gründer des Verlagshauses Fukutake Publishing, heute Benesse Corporation und der damalige Bürgermeister Naoshimas, Chikatsugu Miyake, um über eine Entwicklung der Insel zu einem Standort der Bildung und Kultur nachzudenken. Die Benesse Holdings, Inc., die die Berlitz- und ELS-Sprachschulen verwaltet und ihren Namen aus dem Gedanken ableitet, dass Wohlsein (lat. bene esse) und Bildung in enger Verbindung stehen, unterhält Stiftungen zur Förderung von „healthy local communities by promoting modern art and culture“ (Homepage der Benesse Holdings, Inc.), darunter die Fukutake Foundation, die maßgeblich die Kunst auf Naoshima und die Triennale fördert. Tetsuhikos Sohn Soichiro führt seit 1986 die Geschäfte der Holding und der Stiftung und setzt bis heute die großen Ideen auf den Inseln um.

Red Pumpkin, Yayoi Kusama, 2006. Ein Wahrzeichen der Triennale.Quelle: Verena Pfeiffer-Kloss

Red Pumpkin, Yayoi Kusama, 2006. Ein Wahrzeichen der Triennale.

Naoshima begrüßt seine Besucher mit einem roten Kürbis mit schwarzen Punkten (Yayoi Kusama, Japan), der seit 2006 im Hafen von Miyanoura für ein spielerisches Ankommen sorgt und das zurückhaltend elegante Fährterminal von SANAA erst einmal in den Hintergrund rückt. Als nächstes fällt Sou Fujimotos Naoshima Pavillon von 2015 ins Auge, eine schwebende, kristalline Illusion, die die 28. der 27 Inseln der Gemeinde Naoshima sein möchte – der siebte Sinn vielleicht, die imaginäre Insel des Kulturtourismus.

Sou Fujimotot, Naoshima Pavillon, 2015Quelle: Verena Pfeiffer-Kloss

Sou Fujimoto, Naoshima Pavillon, 2015

Manch eifriger Besucher hakt das Objekt mittels Stempel ins zur Eintrittskarte gereichte Checkheft ab, das Meer liegt blau und still, ein knallroter Krebs begleitet unseren Weg zu Fuß zum Chichu Art Museum, Lee Ufan Museum und dem Benesse House Museum. Der japanische Architekt Tadao Ando hat hier drei unterirdische Himmel moderner Kunst und zeitgenössischer Museumsarchitektur geschaffen, die soweit wie möglich unter der Erde verborgen sind, dass sie die Landschaft nicht stören und so viel wie nötig aus dieser herausragen, um dann doch ihre Bedeutsamkeit und Schönheit unmissverständlich herauszustellen. Und um die perfekte Dosis Tageslicht bereit zu halten für fünf von Monets späten Seerosen oder James Turrels scheinbar schwebender, lichtblauer Lichtmasse (A frum, Pale Blue).

Benesse House Museum, Architekt Tadao Ando, 1992

Benesse House Museum, Architekt Tadao Ando, 1992

Auf der anderen Seite der Insel, in Honmoura, lässt Turell seit 1999 die Backside of the Moon sichtbar werden. In einem Haus völliger Dunkelheit wird ein hellgrauer, tiefer Raum sichtbar, wenn der Besucher nur lange genug in das schwarze Nichts starrt. Gebaut hat auch dieses Haus der Lichtmeister Setouchis, Tadao Ando, dem um die Ecke auch ein kleines Museum gewidmet ist. Als Ando aus Osaka nach Naoshima kam gab es bereits die leergezogenen traditionellen Häuser, von denen die Benesse Stiftung seit 1998 einige in Art Houses verwandeln ließ. Beim ersten Art House Projekt, Tatsuo Miyajimas Sea of Time ’98 etc. handelt es sich um die Sanierung eines 200 Jahre alten Hauses mit typischer Fassade aus geschwärztem Zedernholz und traditionellem Ziegeldach. Im Wohnraum, wo einst die wertvollen Tatami-Matten lagen, hat der Künstler ein Becken mit 125 blinkenden LED-Zählern eingerichtet. Die Zählgeschwindigkeit der Geräte durften die Einwohner einstellen. 2016 gibt es sieben Art Houses und es stehen noch einige Häuser leer.

Minamidera, The Backside of the Moon. Art House in Honmura, Naoshima. Künstler: James Turell; Architekt: Tadao AndoQuelle: Christian Kloss

Minamidera, The Backside of the Moon. Art House in Honmura, Naoshima. Künstler: James Turell; Architekt: Tadao Ando

In enger Zusammenarbeit zwischen Soichiro Fukutake und dem Architekten Tadao Ando entstehen dann 1992 das Benesse House Museum mit zugehörigem Hotelkomplex, 1998 das erste Art House, 2004 das Chichu Art Museum und 2010 das Lee Ufan Museum auf Naoshima. Gleichzeitig weitete sich das Engagement der Stiftung aus: mit der Umnutzung der brachgefallenen Kupferraffinerie auf der Insel Inujima zur Kunststätte, dem Teshima Art Museum auf Teshima 2010 und der ersten Setouchi Triennale im gleichen Jahr wurden umliegende Inseln sowie die Hafenstädte Uno Port und Takamatsu Teil der künstlerischen Regionaloffensive.

Um 18 Uhr schließen die Inseln für die Besucher, die letzte Fähre bringt die Touristen zurück ans Festland und die Bewohner, die so fleißig Stempel in die Pilgerhefte gedrückt, Schirme gehalten und das Ausziehen der Schuhe vorm Betreten der Häuser überwacht haben, haben Feierabend und gehen zum Onsen.

Das Bath House in Naoshima ist ein postmodern verzerrter Onsen.

Das Bath House in Naoshima ist ein postmodern verzerrter Onsen.

“So what does community revitalization mean?” fragt der Direktor der Triennale Fram Kitagawa und antwortet selbst: “Most of this places are on the verge of extinction. Before long, the will disappear. These people are dealing not with despair at what the future holds, but rather with the frustration and grief of being unable to share their knowledge and skills with younger generations. This might be a rock in the shade of which they found a cluster of shellfish while diving, a mackerel fishing ground that changes with the tide and wind temperature, a secret place where wild grasses and flowers grow, the key to making a levee, or the osmotic pressure of the soil. This is the starting point of Setouchi Triennale: the act of sharing each other’s joy, and particularly the joy of local elders, within this limitend space and time of Japan on this planet earth.”

Den Splitter akzeptierter Vergänglichkeit, der in der japanischen Kunst Unvollkommenheit und Schönheit verschmilzt, das leise Kratzen der Harmonie und die Freude an der Illusion nehmen wir abends mit zurück nach Uno Port auf die Dachterrasse des Hostels am Hafen. Ein altes Lagerhaus, ein Industriebau aus den 1940er Jahren, umgebaut von jungen Menschen zu einem Hostel mit Kino und Bar für die Einheimischen und die Besucher der Triennale. Auf dem Wasser unter uns die beleuchteten Schiffe von und nach Naoshima, am Horizont die Eisenbahnbrücke nach Takamatsu und zum Einschlafen noch einmal das nostalgisch-kosmopolitische Singen der Fähren im Terminal. Stille. Im Blick die Vorderseite des Mondes.

Detail im Tadao Ando Museum, Naoshima

Die nächste Setouchi Triennale findet 2019 statt. Sehenswert sind die Inseln aber auch in der Zeit bis dahin, die meisten Museen und Art Houses sind auch außerhalb der Triennale geöffnet. Flug nach Osaka, Hiroshima oder Takamatsu. Japan Rail Pass besorgen und in Tamano in Hym’s Hostel schlafen.