immerfort zitiert - niemals gelesen? Karl Scheffler: Berlin. Ein Stadtschicksal. 1910.

Die wahrscheinlich berühmteste Aussage über Berlin  – es sei “dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein” – wird dieses Jahr 100 Jahre alt. Aus Anlass dieses Geburtstags und aufgrund der so hohen Zitierquote ein Plädoyer, die treffsichere und polemische Analyse “Berlin. Ein Stadtschicksal” von Karl Scheffler einmal zu lesen.

“Wo rückhaltlose Bejahung unmöglich ist, die Verneinung des von der Geschichte Gegebenen aber lächerlich wäre, bleibt nur jener Blick auf die Bestimmung, die mit dem isolierten Objekt zugleich dessen Entwicklungsgesetz wahrnimmt und darüber die Worte schön und häßlich fast vergißt.

Fast! Denn wer vermöchte diesen Standpunkt eines ehrfürchtigen Fatalismus dauernd zu behaupten!”

Karl Scheffler beschreibt Berlin als Kolonialstadt, als eine geplante Gründung zum Zweck des Handels, der Besiedlung und der Anbindung bzw. Eroberung weiter östlich gelegener Gebiete. Aus diesem Ursprung leitet er als Entwicklungsgesetz der Stadt ab, dass diese sich fortan immer „unter Schwierigkeiten aller Art und zur Hälfte immer künstlich entwickeln musste und […] sich ungünstigen Verhältnissen anzupassen hatte“ und daher zu den Städten gehöre, die Charakteren gleiche, „die es sich mit dem Leben müssen sauer werden lassen und die durch die Lebensmühe, die sie haben, unliebsam und problematisch werden.“ Dieser Unliebsamkeit spricht Scheffler eine bedeutende Existenzberechtigung zu:

„Wo Notwendigkeiten und Bestimmungen sichtbar werden, da schaut man immer auch mit Ehrfurcht an. Es ist darum nicht nur eine Handlung des Gehorsams gegen die Natur, sondern auch eine Tat der Klugheit, die bestimmenden Kräfte vor allem dort aufzusuchen, wo nicht ohne weiteres die Sympathie spricht, und gerade Dinge, von denen man sich abgestoßen fühlt, ganz objektiv zu nehmen. So nur söhnt man sich mit der Tragik aus, der alle Lebenserscheinungen unterworfen sind.“

Berlin ist für Scheffler eine künstliche, eine hässliche Stadt, der als Kolonialstadt das „Grundelement“ fehle, „das einer lebendigen Liebe zur Stadt zur Basis werden könnte“. Sein Entwicklungsgesetz verdammt es daher dazu, „immerfort zu werden und niemals zu sein.“

Dieser Satz ist berühmt geworden. Zurecht, denn alleine ein Blick auf die 1990er Jahre scheint dies zu beweisen. Es wundert nicht, wenn bis heute, 100 Jahre nach dem Erscheinen von Schefflers Buch, jeder zweite Zeitungsartikel und jeder dritter Buchbeitrag zur Berliner Stadtentwicklung diesen Halbsatz zitiert – meist allerdings mit einer Konnotation der Trauer über einen (städte)baulichen Verlust. Dem hätte Scheffler nicht zugestimmt, seine Herleitung ist eine andere: aufgrund der steten Unzufriedenheit der Bürger mit dem tatsächlich unbefriedigenden Sein dieser immer künstlichen Stadt wird immer wieder ein neuer Wille zur Umgestaltung laut. Was künstlich begonnen hat, wird künstlich weiterentwickelt werden und was nie die Zuneigung seiner Bürger bekommen hat, wird diese auch nie bekommen. Jedem Gewordenen liegt ein Wollen zugrunde und jedes Gewordene wird immer wieder zum Auslöser für Ablehnung und die Erfindung eines neuen Gewollten. Gerade diejenigen, die Scheffler so eifrig in ihre Dienste stellen um ihrer Trauer über den Verlust eines historischen Teils der Stadt, ihrem Unmut über den heutigen Zustand oder der Berechtigung der Rekonstruktion eines Verlorenen Ausdruck zu verleihen, beweisen, dass Karl Scheffler mit seiner Analyse richtig lag.

Das eingangs stehende Zitat ist leider nicht bekannt geworden. Das ist Schade, plädiert es doch für größere Besonnenheit, intensivere Beachtung des Bestandes wie auch zur Akzeptanz des Berliner Entwicklungsgesetzes, gleichzeitig warnt es auch vor einer allzu fatalistischen Einstellung.

Diese Betrachtungsweise ist elegant und überlegt, sie stellt eine Haltung gegenüber dem Umgang mit Geschichte, Stadt und Baukultur dar, die möglichst objektiv und unvoreingenommen an die Betrachtung eines Ortes herangeht. Es wäre zu wünschen, dass manche derjenigen, die Schefflers Analyse für ihre Arbeit in Anspruch nehmen, sein Buch einmal lesen mögen.

Dieses, übrigens, kann nur noch antiquarisch gekauft werden. Der Erstauflage von 1910, die einen kleinen Skandal hervorrief, folgte noch eine Auflage im Jahr 1989, die aber ebenfalls nicht mehr im Handel erhältlich ist. Im Rahmen der derzeitigen Diskussionen über Rekonstruktionen und Archäologie in Berlin ist es allerdings schon fast verwunderlich, dass das Buch nicht neu verlegt wird.