The Time Is Now!

Second Hand kann ganz schön schick sein, ultraschick sogar, wenn man die neue Publikation “Second Hand Spaces” aus dem Jovis Verlag sieht. Optisch in klassischen Recyclingmaterialien und -farben gehalten, jedoch geschickt kombiniert mit einem sehr edlen Goldton, der sich durch die ganze Publikation hindurchzieht und immer da auftaucht, wo etwas besonderes zu sehen oder lesen ist.

Das Design, und das fällt wirklich jedem auf, der das Buch in die Hand bekommt, ist mit viel Liebe zum Detail, mit viel Mut und Pioniergeist gestaltet. Und wer jetzt denkt was das Design mit dem Thema der Zweit-, Dritt- oder Viertverwertung von Flächen in der Stadt zu tun, dem sei dieses Buch besonders ans Herz gelegt, denn „Second Hand Spaces“ handelt genau darüber; über Liebe zum Detail, Mut und Pioniergeist und ist für mich somit das Buch der Stunde.

Abb.: Jovis Verlag

 

Freiräume erobern durch Flächenrecycling

Menschen wie wir, die unter teils extremen Produktionsbedingungen in Berlin leben, arbeiten und feiern, kennen die Potentiale der rasant weniger werdenden undefinierten Flächen im Stadtraum sehr gut. Jede nicht gewidmete und nicht verbaute Brache bietet unendlich viele Möglichkeiten, für alternative Lebensentwürfe genau so, wie für temporär aufpoppende Events oder Locations. Sie sind gemeinhin bekannt und geschätzt als Möglichkeitsräume, in denen etwas ausprobiert werden, etwas passieren kann.

Jenseits von einseitigen Verwertungspraxen entstehen in den Zwischenräumen und Verschnittflächen kleine Oasen, die besonders eine wichtige soziale Funktion übernehmen. Die „Second Hand Spaces“ ermöglichen es einem vornehmlich finanzschwachen kulturell/sozial interessierten Publikum Raum neu zu denken, zu nutzen, Funktionen umzudeuten, in Frage zu stellen und lokale Visionen zu entwickeln, die häufig aus einem individuell erlebten Mangel in Aktion verwandelt werden.

 

Theorie für die Praxis

Das Buch handelt von eben diesen Flächen und den Akteuren in unterschiedlichen Städten, denn nicht nur in Berlin warten Flächen auf die weiterführende kreative Verwertung. Viele lebendige Beispiele werden mit einer hohen Sach- und Fachkenntnis erläutert und meist von internen Projektpartnern oder Assozierten kompetent beschrieben. Begleitet von theoretischen Überlegungen, die den aktuellen Diskurs widerspiegeln geht das Buch aber ein Stück weiter, in dem eine zwar rudimentäre aber interessante Typologie versucht wird: die drei Kapitel beleuchten jeweils einen projekttypischen Meta-Aspekt.

Das Kapitel „Kulisse“ beschäftigt sich primär mit den Rahmenbedingungen, die die vorgestellten Projekte ermöglichen und beeinflussen. Rechtliche Rahmenbedingungen spielen hier ebenso eine Rolle, wie räumlicher Überfluss und die Unfähigkeit mit teilweise massivem Leerstand umzugehen. Termini, wie Zwischennutzung oder temporäre Nutzungen spielen hier eine große Rolle, was vor allem am Beispiel „Yaam & Bar 25“ von Carsten Joost deutlich wird, da beide Projekte temporär angelegt waren und wie im Fall der Bar 25 zwischenzeitlich wieder aufgelöst sind. Das dieser Zwischenstatus für die Anfangsphase zwar optimal ist, jedoch in einer fortgeschrittenen Phase eine große Belastung sein kann, da er Investitionen und Förderung verhindert, kann am Fall des Yaam ganz gut nachvollzogen werden.

im Kapitel „Akteure“ werden Ideen- und Impulsgeber vorgestellt, ohne deren Visionsfähigkeit und Mut, aber auch ohne deren Gestaltungswillen und Durchhaltekraft, sicherlich keines der vorgestellten Projekte Realität geworden wäre. Akteure müssen aber nicht zwingend angestammte oder in der Stadt beheimatete Akteure sein, wie die Beispiele Gängeviertel in Hamburg und Eichbaumoper in Mühlheim an der Ruhr zeigen: In Hamburg haben Kunstschaffende die Verantwortung für einen Straßenzug übernommen, der abgerissen werden sollte um Büronutzungen zu weichen. Dadurch wurde das Abriss-Schicksal des Viertels in letzter Minute dauerhaft abgewendet, denn die stadt Hamburg hat das Areal zwischenzeitlich vom Investor zurückgekauft. In Mühlheim an der Ruhr war das Raumlabor aus Berlin mit assozierten Partnern tätig und baute die Stadtbahnhaltestelle „Eichbaum“, einen teilweise aufgegebenen Ort, in einen temporären Opernbetrieb um.

Beide Beispiele sind von Impulsgebern initiiert und von Akteuren vor Ort getragen, was nicht nur eine Allianz bildet, die solche Projekte erst ermöglicht, sondern auch auf ein seriöses und tragbares Gerüst stellt, das auch dann noch betrieben werden kann, wenn die eigentlichen Impulsgeber schon längst an ganz anderen Orten tätig sind.

Das Kapitel „Fluidum“ bringt die Effekte ins Gespräch, die von belebten „Second Hand Spaces“ ausgehen. Hier spielen die Testfelder für urbane Resilienzen ebenso eine Rolle, wie Modellvorhaben für die Weiterentwicklung planerischer Instrumente, wie z.B. der Bürgerbeteiligung. Dies ist zwar nicht immer unmittelbar im Sinne einer politischen Beteiligung gemeint, könnte aber einen Versuch Wert sein fortan Formen dieser schon funktionierenden tatsächlichen Beteiligung als Ausgangspunkt für eine Politisierung der ohnehin schon beteiligten Stadtbewohnerinnen und –Bewohner zu entwickeln.

 

Resumee

Das vorliegende Buch macht unheimlich Spaß zu lesen. Die Autorinnen und Autoren haben es geschafft einen Sammelband an interessanten Beispielen von Zwischen- oder temporären Nutzungen zusammen zu bringen und diese theoretisch zu untermauern. Die Dreiteilung in „Kulisse“, „Akteure“ und „Fluidum“ funktioniert gut, ebenso wie das Muster jedem Kapitel drei reflektierende und allgemeinere Essays voranzustellen, die dann von je fünf praktischen Beispielen begleitet werden. Die Sprache ist sehr angenehm, was das Lesevergnügen zusätzlich steigert. Dies möchte ich besonders hervorheben, da das Buch somit auch eine Leserschaft erreichen kann, die bisher vor planungsrelevanter Literatur zurückgeschreckt ist.

Allerdings ist das Layout an manchen Stellen zu gewollt und schafft visuelle Ebenen, die das Lesen des umlaufenden Textes stark erschwert. Auch manche Zitate auf den Zwischenseiten sind schlicht eine Zumutung. Da diese aber aus den Fließtexten entnommen sind, konnte ich das als künstlerische Freiheit akzeptieren und als Artefakt schätzen.

Inhaltlich hätte ich mir einen differenzierteren Umgang mit den Begriffen „Recycling“, „Wiederverwertung“, „Wiederinwertsetzung“ usf. gewünscht. An manchen Stellen ist es mir nicht eindeutig klar geworden, wie sich diese Begriffe von einander abgrenzen.

Trotzdem möchte ich das Buch, ich habe es eingangs schon mal gesagt, gerne weiterempfehlen. „Second Hand Spaces“ zeigt die Utope die eine Stadt unbedingt braucht; Orte, an denen etwas nicht mehr und etwas noch nicht ist. Diese Orte haben ein ungalubliches v.a. soziales Potential und sollten in diesem Sinne genutzt und entwickelt werden.

 

Second Hand Spaces – Über das Recyceln von Orten im städtischen Wandel

Herausgeber: Michael Ziehl, Sarah Oßwald, Oliver Hasemann, Daniel Schnier

Erschienen im Juni im Jovis Verlag

464 S., mit ca. 350 farb. Abbildungen

29.95€ ISBN 978-3-86859-155-2

 

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