Wie nähert man sich einer Stadt, die, wie Ruth Glass es beschreibt, zu weitläufig, zu komplex, zu gegensätzlich und zu stimmungsvoll ist, um als Ganzes erkannt und gesehen zu werden? Matthew Gandy, Geographieprofessor am UCL – University College in London und zwischen 2005 und 2011 Direktor des dort ansässigen Urban Laboratory bietet im kürzlich von ihm herausgegebenen Buch „Urban Constellations“, eine überraschende Herangehensweise an.

Der Stil der Publikation ist denkbar ungewöhnlich: Im Rekurs auf Walter Benjamins Gebrauch des Begriffs der Konstellation im Sinne einer Möglichkeit scheinbar disparate Elemente in einem historisch und intellektuell fassbaren Schema abbilden zu können, wurden Texte zusammengetragen, die der sog. „kleinen Form“ wie sie die großen Berliner Flaneure Benjamin, Krakauer und Hessel in den 1920er Jahren erfanden und pflegten, folgen. Diese Einzelbilder des Ganzen können vom Leser beliebig kombiniert und in Reihenfolgen bzw. Konstellationen gebracht werden und erlauben so einen eigenen Umgang mit der Komplexität des Begriffs „Stadt“.

Sicher wird es ein überschaubarer Band mit Texten nicht schaffen ein Gesamtbild „Stadt“ zu zeichnen, was vom Herausgeber auch nicht intendiert ist. Vielmehr soll ein kaleidoslopartiges Bild dessen entstehen, was wir gemeinhin Stadt nennen.

Unterteilt in fünf Sektionen werden urbane Theorien beleuchtet (z.b. „Between Marx and Deleuze“ von Jenifer Robinson), wirtschaftliche und politische Dynamiken untersucht (z.b. „London for sale“ von Michael Edwards; „Dictators, dogs and survival in an post-totalitarian city“ von Ger Duijzings) und künstlerische Strategien des Sichtbarmachens von urbanem Wandel vorgestellt (z.B. „The games are open“ von Köbberling und Kaltwasser; „Wonderful London“ von Karolina Kendall-Bush). Der Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Leben und Erleben des städtischen Alltags und dessen Phänomänen v.a. in modernen Städten, welche die beteiligten Autorinnen und Autoren auf höchst unterschiedliche Weise untersuchen und beschreiben. Teilweise wissenschaftlich professionell, teilweise sehr persönlich werden Einblicke in unterschiedlichste Stadtkörper zwischen Berlin, Lagos, London und Chennai geboten.

Mit dem konsequenten nutzen der „kleinen Form“ für die Texte ist hier ein vages Unterfangen geglückt: zum einen nimmt sie zwar den Autorinnen und Autoren die Möglichkeit sich mit Phänomenen und Sachverhalten hochwissenschaftlich auseinanderzusetzen, bietet dadurch aber zum anderen vor allem einer nicht in Urbanismus und Stadtforschung geübten Leserschaft Eingang in diesen spannenden Kosmos an. Was aber nicht heißen soll, dass es den Essays an inhaltlicher Substanz oder Dichte fehlt, ganz im Gegenteil. Zum einen wurden renomierte Wissenschaftler und Künstler gebeten einen Beitrag zum Diskurs zu leisten, zum anderen folgt die Publikation der Forschungs- und Ideenarbeit des UCL, wird von dieser Arbeit inhaltlich und strukturell zusammengehalten.

Die Texte wirken zu keinem Zeitpunkt beliebig zusammengestellt oder gruppiert und überlassen es den Adressaten das Kaleidoskop nach der Lektüre beliebig weiter zu erforschen, den Band individuell mit eigenen Erfahrungen zu ergänzen. Diese Herangehensweise folgt der individuellen Stadtwahrnehmung und stützt diese mit wissenschaftlichem und künstlerischem Input. Sie fördert an vielen Stellen überraschendes zu Tage und hilft zudem die Sinne zu schärfen und die Wahrnehmung für räumliche Situationen, Dynamiken und Prozesse zu schulen. Dazu, und das ist die eigentliche Stärke des Bandes, macht „Urban Constellations“ wirklich Lust: nach jedem Essay zieht es nach draußen, ins Feld, um zu schauen, wie sich die eigene Stadt gerade verhält.

 

Urban Constellations

Herausgeber: Matthew Gandy
ENGLISCH
208 Seiten
mit 23 s/w, 75 farb. Abb. und 5 Grafiken Abbildungen
Broschur
Format: 16,8 x 24 cm
Euro 28.00  sFr 38.00
ISBN 978-3-86859-118-7

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