In der deutschen Ausgabe dieses 2011 erschienenen und  viel beachteten Buches über die größten Migrationsbewegungen der Menschheitsgeschichte kann man einem sehr schönen und aussagekräftigen Irrtum unterliegen. Im großgeschriebenen „C“ von „Arrival City“ steht nämlich hochkant und klein ein „Blessing“ – und genau darum scheint es dem kanadisch-britischen Autoren Doug Saunders zu gehen: die gerade weltweit stattfindende Verstädterung möchte er unbedingt als gesamtgesellschaftlichen Gewinn verstanden wissen. Der Titel ist indes mitnichten „Blessing Arrival City“ sondern es handelt sich lediglich um den Verlagsnamen des „Karl Blessing Verlages“ – aber Nomen ist Omen.

Abb.: "Arrival City" mit freundl. Genehmigung des Verlags

Abb.: “Arrival City” mit freundl. Genehmigung des Verlags

Anfangs stolpert man noch gerne über ein-zwei Binsenweisheiten, Lippenbekenntnissen und Mainstream-Aussagen wie: „Ohne Urbanisierung stagniert die Wirtschaft“, aber spätestens ab dem zweiten Viertel fesselt Saunders sowohl mit seinen vielseitigen Beispielen als auch mit einem das ganze Werk durchziehenden Roten Faden. Im Umschlagtext heisst es, dass er der Land-Stadt-Wanderung des 21. Jahrhunderts mit seiner Reportage ein Gesicht gibt. Und genau darin liegt eine seiner großen Stärken. „Arrivale City“ ist weder ein emperisches Sammelsummerium von Zahlen rund um das Thema Migration noch eine politisch-ideologische Streitschrift darüber. Saunders nähert sich stattdessen über unzählige konkrete Beispiele aus der ganzen Welt, jahrelang selbst recherchiert und auf unzähligen journalistischen Reisen vor Ort selbst erlebt. Der Leser braucht nun nicht mehr die Slums von Mumbai, die Banlieue von Paris oder die Wellblechsiedlungen Südamerikas selbst gesehen haben, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Doch Saunders beschränkt sich nicht auf die Beschreibung, er erklärt zudem die Hintergründe. Das zweite große Plus des Buches – auch nach unzähligen Seminaren, anderen Büchern und Dokumentationen über Verstädterung und Wanderung hat man als Leser hier einen sagenhaft hohen Erkenntniszugewinn. Die Erklärungen und Beschreibungen der Begleitumstände ALS AUCH der Hintergründe sind verständlich und einleuchtend, aber keinesfalls banalisierend oder einseitig wertend. Und man muss als Leser noch nicht einmal vom Fach kommen oder über ein ausgedehntes Spezialvokabular verfügen, um seinen Argumentationen folgen zu können. Im Gegenteil – bei aller Komplexität und Aktualität, kann man schon jetzt „Arrival City“ als Standard- oder Einführungswerk in die Stadtsoziologie ansehen.

Worum geht es? Im Gegensatz zu den vielfach dystopisch anmutenden Zukunftsszenarien über Überbevölkerung, Slums, Mobilität und Arbeit gibt Saunders nicht nur ein äußerst anschauliches Modell der Land-Stadt-Wanderung sondern er betont expliziet die Vorteile dieser. Profiteure seien nicht nur die Ankommenden selbst, mögen die Verhältnisse in den provisorischen Slums auch noch so offensichtlich katastrophal sein, sondern vor allem die Städte und Aufnahmegesellschaften, denn so kämen die Menschen, die es zur Aufrechterhaltung der Sozialgefüge und Systeme in den Postindustralisierten Gesellschaften braucht und die Arbeitskräfte für den unteren Dienstleistungssektor und Anlerntätigkeiten in die Stadt bzw. ins Land. „Es ist gut möglich, dass die Länder Nordamerikas und Europas eine aktive Anwerberpolitik betreiben werden und sich keineswegs einer Flut entgegenstemmen müssen.“  Die „Slums“ in den Metroplolen und  andere erfolgreiche  Ankunftsstädte sind entgegen der Wahrnehmung der Mittelstandsgesell-schaft auch keine Orte von Verlierern oder soziale Sackgassen, sondern dynamische Stationen in Wanderungsbiografien: sie sind die Transiträume für die Wandernden. Der rein fiskalische Eindruck, es handelt sich um abgekoppelte und dauerhaft arme Gebiete ergibt sich aus dem Umstand, dass die erfolgreich in der (Mittelstands-)Gesellschaft ankommenden Migranten, diese Gebiete dann wieder verlassen haben und somit auch Platz für die nächsten wiederum armen Wanderer gemacht haben werden. Elementar für den Erfolg einer Ankunftsstadt ist neben der Möglichkeit zur Schaffung von Wohn- und Geschäftseigentum vor allem die – wenn auch nur schwer zu erreichende oder theoretische – Chance, eines Tages legalisiert bzw. amnestiert zu werden. Jegliches illegale Wandern, temporäre Niederlassen und Wirtschaften wird von den Wanderern nur akzeptiert und als lohnend in Angriff genommen, wenn die Möglichkeit besteht, eines Tages seine Geschäfte und Eigentümer formalisiert zu sehen und ein vollwertiger Bürger der Aufnahmegesellschaft bzw. Stadt werden zu können. Daraus folgen mehrere eklante Hindernisse für den Erfolg einer Ankunftsstadt und den damit verbundenen gesamtgesellschaftlichem Gewinn wie beispielsweise die Verwehrung von Bürgerrechten (türkische Migranten in Deutschland), die Aufwertung der Baustruktur als finanzielle Barriere für den Zuzug (Slumclearance in Mumbai) oder die Vermeidung  bzw. Unterdrückung von Wanderung allgemein (südamerikanische Diktaturen, China, Polen). Ist die Ankunftstadt solchen „Störungen“ ausgesetzt, entwickelt sie interne Kompensationsinstrumente und extremistische Reaktionen, wobei die offensichtlichsten Nationalismus (Hindu-Moslem-Konflikt in Indien), extremistischer oder zumindest überproportionaler Islamismus in Deutschland und Frankreich (Zwangsheiraten, Kopftuch, Ehrenmord) und kriminelle Selbstorganisation (Drogenbanden in den brasilianischen Flavellas) sind. Daraus folgend sieht Saunders in den Ankunftstädten auch die unbedingten Motoren für gesellschaftliche Veränderungen bis hin zu zahlreichen Revolutionen und Umbrüchen  – aktuell als auch in den letzten 300 Jahren Stadtgeschichte. Bezeichnenderweise waren sie aber nie – oder zumindest nicht in erster Linie – die Profitierenden solcher sozialer Umbrüche. Auch waren sie selten die Initialzündungen dieser Entwicklungen, oft aber die kritische Masse. Und die Spanne dieser Veränderungen reicht allein in den letzten 25 Jahren von der islamistischen Revolution im Iran über den Arabischen Frühling bis hin zur Etablierung von Migranten in den politischen Führungseliten eines Landes wie in der Türkei. „Die ausländischen Dorfbewohner und Einwanderer von gestern sind die städtischen Ladenbesitzer von heute und die freiberuflichen Akademiker und Spitzenpolitiker von morgen. Ohne diese Metamorphose stagnieren und sterben die Städte.“

Neben solchen und ähnlichen allgemein zitierfähigen Aussagen – andere Beispiele sind: „Gips und Farbe an den Häuserwänden sind auf der ganzen Welt ein Zeichen für frei verfügbares Einkommen“ oder der Feststellung, dass sich nach der ersten Transformation der Ankunftstädte städtebaulich IMMER fünfgeschössige Multifunktionsbauten etablieren – wird Saunders in den letzten Kapiteln geradzu normativ und appeliert an das Ausnutzen umfassender und vielseitiger planerischer Instrumente zur Vorbereitung und Verwaltung dieser Arrival Cities. Doch so sehr man vielen dieser Vorschläge auch zustimmen möchte, in diesem Teil liegt wohl die größte Schwäche des Buches – oder besser gesagt des thematischen Ansatzes. War die Analyse so erfrischend wertfrei, durchdacht und stimmig, so sind die Schlussfolgerungen teilweise halbherzig, teilweise widersprüchlich und vor allem wichtige „Nebenwirkungen“ wie dem Ökologischen Fussabdruck dieser Verstädterung oder Folgeerscheinungen wie Suburbanisierung einfach ausblendend. Doch trotz oder vielleicht sogar wegen dieser durchaus kontroversen Appelle an die Politiker, Planerzunft und Architektenschaft ist Saunders Buch eine absolut lesenswerte Lektüre.

 

“Arrival City
Autor: Doug Saunders
Aus dem Englischen von Werner Roller
Erschienen im Blessing Verlag (September 2012)
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 576 Seiten
Preis: € 22,95, ISBN: 978-3-89667-392-3
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