In E. M. Fosters Roman „Zimmer mit Aussicht“, verliert die Protagonistin, eine englische Adlige namens Lucy Honeychurch, bei der Besichtigung der Franziskaner-kirche Santa Croce in Florenz zu erst ihre fachkundige Reisebegleitung und dann auch noch den Baedeker. Unvorstellbar, doch Lucy Honeychurch war somit orientierungslos in einer für sie fremden Stadt und nicht zuletzt einer fremden Welt, in die sie sich fortan vorsichtig hineintastete.

Das wohlbehütete Mädchen reicher Eltern war auf einer, der für das ausgehende victorianische Zeitalter üblichen Bildungsreisen, um sich an den Schönheiten Italiens zu ergehen und voller Eindrücke nach Kent, ins ländliche Tunbridge Wells zurückzukehren und zu heiraten. Das Reisen, gemeint ist hier nicht das touristische Unterwegssein, sondern das monatelange an einem Ort Verweilen, gehörte zum Selbstverständnis und über lange Zeit zum Privileg einer adligen Klasse, die sich allerdings zusehends mit der bürgerlichen Schicht und deren ganz anderen Lebens- und Reiseverständnis, konfrontiert sah.

Dieses aufkommende Bürgertum veränderte das Reisen, vor allem das Bildungs-reisen, stark und somit auch den Habitus und die Medien des Reisenden. Es eignete sich zwar die oberflächlichen Verhaltensweisen des Reisens an, allerdings eher im Sinne einer Travestie, denn er konnte aufgrund eingeschränkter Finanzkraft nur sehr kurz an den schönen und kulturell wichtigen Orten Verweilen, wollte aber in dieser Zeit das Wesentliche des Ortes erleben und dessen Sehenswürdigkeiten „abarbeiten“. Müller spitzt den neuen Habitus des Reisenden trefflich mit dem Bild „Engländer in der Campagna“ von Carl Spitzweg zu, das auch auf dem Cover abgebildet ist – vertieft in Medien unterschiedlichster Art „bereisen“ eine Gruppe Engländer die italienische Campagna und erschließen sie nicht mehr aus ihnen selbst heraus, sondern gestützt auf Vermittlungs- und Dokumentationsmedien.

Das Beispiel der Romanfigur Lucy Honeychurch und ihrem Missgeschick mit den für sie selbst und ihr Leben schwerwiegenden Folgen, zeigt dies ziemlich deulich, auch den Einfluss welchen der Baedeker auf die Reise- und Sehgewohnheiten der Reisenden hatte und immer noch hat: Keiner bestimmte so präzise, wie Länder und Städte auf Reisen wahrgenommen wurden, welche Epochen von Interesse waren und welche Bauwerke besichtigt wurden; Und nicht nur das, der Baedeker bestimmte auch darüber, wie über diese gedacht wurde. Die gesamte Reiseroute wurde dem Baedeker entnommen und akribisch abgearbeitet. Somit schulte der Baedeker die Augen von Generationen an Reisenden und erschuf dadurch Stadtbilder, die in ihrer Kompaktheit einzigartig waren und sind.

Es geht also um sich schleichend verändernde Weltbilder (Müller spricht etwas deutlicher von Paradigmenwechsel), die Eroberung von Privilegien, die nur in bestimmten gesellschaftlichen Klassen praktiziert wurden bzw. werden konnten und den Wandel einer Tätigkeit von der Erlangung geistiger Tiefe hin zu oberflächlichem Konsum. Es geht aber auch um Blickregime, um Präferenzmacht und eine Sicht auf die Welt, die durch nichts so stark geprägt wird als durch den Reiseführer, dem die Reisenden sich anvertrauen.

 

Abb.: Campus Verlag

 

Hier sind wir schon mitten in der Dissertation der Historikerin Susanne Müller, die mit „Die Welt des Baedeker“ eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers von 1830 bis 1945 vorgelegt hat. Ein Buch über DEN Reiseführer, das selbst wie ein Reiseführer funktioniert; ein Reiseführer in die Welt des 19. Jahrhunderts und die vielen fundamentalen Umbrüche, die massive technische, sowie in Folge dessen auch gesellschaftliche Veränderungen hervorgerufen hat.

Müller arbeitet sich im ersten, dem wissenschaftlichen Teil der Dissertation, ausführlich an diesen Phänomenen ab, die teilweise sehr weit ausschweifen, jedoch nie den Eindruck vermitteln es wäre unsinnig etwas über des Baedekers frühe Konkurrenz, die Familiengeschichte der Baedekers, die Entwicklung von Luftfahrzeugen, Eisenbahn, Dampfschiffen und Photoaparaten, sowie dem sich, bedingt durch diese Medien, verändernden Blick der Reisenden zu erfahren. Um die Notwendigkeit von Reiseführern herzuleiten benötigt es zwingend die Kenntnis über die neuen Möglichkeiten, die sich durch die Möglichkeit neue Transportmittel nutzen zu können ebenso ergeben, wie durch das Aufkommen neuer Medien zur Betrachtung von Landschaft und Architektur sowie zur Beschaffung von Informationen über diese.

Die Erfolgsgeschichte des Baedeckers beginnt 1835 mit der Wieder-Herausgabe der überarbeiteten „Rheinreise von Mainz bis Köln“ von Johann August Klein. Dieser Reiseführer begründet nicht nur den Ruf des Verlags, sondern auch einen Mythos, der sich aus gut recherchierten und vor allem zumeist selbstbereisten Städten und Strecken zusammensetzt, ferner aus sehenswerten Orten und Objekten, Geschichte und Geschichten und dem ein oder anderen Geheimtipp. Das alles so aufbereitet, dass es auf Reisen nicht belastend viel wird und somit leichten Konsum bietet.

Allerdings, eingangs habe ich es schon erwähnt, stellt sich durch dieses Angebot auch der Blick ein und richtet sich aus auf Wiedererkennungswerte, die am besten durch Sehenswürdigkeiten repräsentiert werden. Und wer kennt es nicht: das Beweisphoto vor dem Eiffelturm, dem Taj Mahal, dem Brandenburger Tor oder der Freiheitsstatue alleine beweisen die Anwesenheit der Abgebildeten in einer bestimmten Stadt. Diese Tatsache zentriert die Touristenströme, bietet aber auch gleichzeitig eine Folie zur Herausbildung im besten Fall von unverwechselbaren Stadtbildern, im schlechtesten Fall von Nationalmythen, womit auch die Mediengeschichte ihren unschönen Höhepunkt hat und gleichzeitig das Ende DES Baedekers markiert.

Hier zeigt sich besonders gut ein Ansinnen der Autorin, darauf hinzuweisen, welche Macht ein Reiseführer wie der Baedeker auf Reisende und deren Blick haben. Denn was 1835 den Grundstein für den andauernden Erfolg des Verlagshauses Baedeker legt, die unabhängigkeit und unbestechlichkeit des Buches, wird im National-sozialismus für ein Blickregime missbraucht, weswegen Müller das Ende ihrer Arbeit auf 1945 legt, da der Baedeker, durch sagen wir mal einer Serie gefälliger deutsch-tümelnder Reiseführer, unglaubwürdig geworden ist.

Susanne Müller hat große Freude am Untersuchen jedes noch so kleinen und entfernten Details. Die Mediengeschichte hat besonders da starke Momente, an denen sie die Geschichte des Mediums genau auf ihre Bedingungen untersuchen, akribisch alles abgrasen kann, was ein Reiseführer braucht, um einen derartigen Erfolg zu haben. So stelle ich mir auch Karl Baedeker vor, fleißig und ehrgeizig aber nie unökonomisch mit den eigenen und den Fähigkeiten der Rezipienten. Müller liefert auf diese Weise ein ungeheures Wissen, nicht nur über ihren eigenen Untersuchungs-gegenstand, sondern auch über eine Kulturtechnik, die heute selbstverständlich und streckenweise zum Problem geworden ist.

Was ihr gut gelingt ist, in noch den kleinsten Verzweigungen eine Relevanz aufzuspüren. Diese ist nicht immer gleich präsent, doch spätestens im folgenden Kapitel werden die fraglichen Aspekte klar. So kann für Müller gelten, was sie selbst auch dem Baedeker zuschreibt: Die Ausführlichkeit ist in Wahrheit eine Reduktionsleistung, die durch diskretes Auslassen eine Übersicht schafft, die den an Tourismusthemen interessierten Laien umfassend aber nicht erschöpfend in Kenntnis setzt, es bleibt noch Spielraum für eigenes Wissen und eigene Erfahrung.

Einziger Wermutstropfen: das Buch ist zu großen Teilen chronologisch aufgebaut und kommt dadurch oftmals an die Grenzen des denk- bzw. memorierbaren, da sich die Erzählstränge in der Realität oft überschlagen oder Entwicklungen parallel verlaufen und sich derart verflechten, dass eine chronologische Anordnung den Lesefluss in einem ständigen Vor und Zurück unübersichtlich werden lässt.

Dennoch, Müllers Schreibfreude ist ansteckend. Ich habe das Buch mit größtem Vergnügen in meinem Urlaub gelesen und diesen darüber hinaus streckenweise komplett vergessen; will heißen, ich habe z.B. Salzburg ohne auch nur die geringste Vorbereitung bereist. Das ist jetzt sicher nicht so spektakulär, wie ins Amazonasgebiet vorzudringen, doch auch Salzburg hat viel zu bieten das sicher in jedem Reiseführer Erwähnung finden würde, darüber hinaus aber durchaus einige Ecken, die die Möglichkeit bieten sich ordentlich zu verirren und tatsächlich „in der Fremde“ zu sein, wenn auch mit anderen Konsequenzen als am Amazonas.

Summa ist die Medienkulturgeschichte des Reiseführers ein lohnenswertes Buch, das ich zur Anschaffung empfehle. Vor allem für Leser und Leserinnen, die sich für Stadtwahrnehmung und Blickregime interessieren, aber auch für grundsätzlich an touristischen Themen und historischen Entwicklungen Interessierte. Ein positiver Nebeneffekt ist, dass sich der eigene Blick auf das eigene Reisen verändert und eigene touristische Erfahrungen hinterfragt.

 


Die Welt des Baedeker – Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830-1945

Autorin: Susanne Müller

Erschienen im Campus Verlag

Englische Broschur; 354 Seiten mit 47 Abbildungen

Preis € 29,90; EAN 9783593396156

Kurzzusammenfassung

Leseprobe

Webseite der Autorin

 

P.S. Im Rekurs auf die vielen zeitgenössischen Zitate und Karrikaturen Karl Baedeker betreffend, kann sogar eine Antwort auf die ewige Frage „Warum ist es am Rhein so schön?“ gegeben werden: Weil der Baedeker es gesagt hat!