Chicago, Prototyp der amerikanischen Großstadt. Die Stadt des Rasters. Die Logik der ökonomisch maximalen baulichen Ausnutzung des Grundstücks. Ausgerechnet an diesem Ort stehen die zwei runden Türme von »Marina City«, die geradezu unverschämt trotzig eine Einpassung in ihre Umgebung verweigern. Ein Objekt, das herausragende architektonische Qualitäten hat und zugleich viel mehr ist, als einfach nur Architektur.
Im Juni 2010 ist nun die Monographie »Marina City – Betrand Goldberg’s Urban Vision« von Igor Marjanovic und Katerina Rüedl erschienen. Urbanophils inhaltlicher Fokus in diesem Jahr auf die Architektur und den Städtebau der 1960er und -70er Jahre verlangt nach einem Blick in dieses Buch. Eine Rezension.

Marina City, eine Stadt in der Stadt, eine fünfteiliger Komplex aus zwei runden, maiskolbenartigen Wohntürmen, einem rechteckigen Bürogebäude und einem sattelförmigen Theaterbau – angeordnet auf einer 2-geschossigen Konsumplattform, die ihrerseits die Gleise der Navy Pier Railway überspannt. Entworfen wurde die Anlage von Bertrand Goldberg (*1913 – † 1997), der in Chicago geboren wurde, seine wichtigste Ausbildungsstation allerdings 1932 und -33 am Bauhaus in Berlin-Steglitz erlebte. Zu dieser Zeit wurde das Bauhaus von Mies van der Rohe geleitet, der 1934 nach Chicago emigrierte. Der Kontakt zwischen dem Lehrer und dem Schüler kam schnell zustande, so dass Goldberg in Mies’ Büro am Haus Lemke mitarbeitete. Mies sollte später in Chicago regelmäßig in Goldbergs Büro vorbeischauen und seine Entwürfe kommentieren – obwohl ihre Formensprache kaum unterschiedlicher hätte sein können.
Am Bauhaus lernte Goldberg die soziale Frage im Wohnungsbau kennen und begann sich daher frühzeitig an architektonischen Möglichkeiten für die Erstellung von kostengünstigem Wohnraum zu interessieren. Insbesondere die industrielle Vorfabrikation von Gebäudeteilen war für ihn von größtem Interesse. Die Häuser der erste Serie von vorgefertigten Wohnhäusern nach Goldbergs Entwürfen, die ab 1942 in Suitland, Maryland im Auftrag der Federal Housing Administration errichtet wurden, kosteten gerade einmal $ 2.995 pro Stück. Das Farbkonzept für die Häuser entwickelte dabei Eero Saarinen. Doch mehr noch als architektonische Fertigkeiten, der Einsatz von industriell vorgefertigten Bauteilen brachte Goldberg bereits frühzeitig in Kontakt mit den (damals noch) mächtigen Gewerkschaften.
Doch in seinen ersten Projekten, wie dem Synder House in Shelter Island, New York bemerkte Goldberg, dass die rechteckige Form Probleme für die Vorfertigung hatte, da die Lasten auf den Außenwänden für jedes Projekt Sonderlösungen erforderlich machten. So begann er zunehmend zylinderförmige Gebäude zu entwerfen.

Übergang zwischen Parkhausebenen und Wohnebenen

Mit Marina City entstand zwischen 1959 und 1965 Goldbergs größtes und wichtigstes Projekt. Die Planung begann zu einer Zeit, als die amerikanischen Großstädte unter dem „White Flight“, also dem Wegzug der weißen Mittelschicht in die Suburbs, litten. Marina City sollte das erste und einzige Projekt in dieser Zeit in Chicago werden, das versuchte diesem Trend durch ein attraktives Konzept von Nutzungsmischung entgegenzutreten. Als Partner für das Projekt suchte sich Goldberg einen großen Immobilienmarker, für den der Niedergang der Downtown eine Abwertung seiner Immobilienwerte bedeutete. Als zweiten und wichtigsten Partner, suchte sich Goldberg allerdings die Gewerkschaft “Building Service Employees International Union“, die starke politische Verflechtungen zur Chicagoer Kommunalpolitik hatte. Die amerikanischen Gewerkschaften begannen in den 1950er Jahren zunehmend, ihr Geld in Low-Income-Housing (sozialer Wohnungsbau) zu investieren, um für ihre Mitglieder bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und zugleich auch Arbeitsplätze (im Baugewerbe aber wie im Falle von Marina City auch in der Hausmeisterbranche) entstehen zu lassen. Zwischen 1950 und 1960 wurden schätzungsweise $ Mio. 500 von den Gewerkschaften in sozialen Wohnungsbau in den USA investiert.

Als Standort wählte Goldberg eine Eisenbahnkonversionsfläche am Chicago River aus – die größtmögliche zu Verfügung stehende Fläche. 1959 beginnt die Entwurfsphase. 1960 erwirbt die Gewerkschaft das Grundstück. Bereits im November 1960 (!) beginnt der Bau.
Das von Goldberg entworfene Stadt-in-Stadt-Konzept zielt darauf ab, dass die Bewohner von Marina City alles zum Leben innerhalb des Komplex’ erhalten. Das Konsum- und Freizeitangebot ist immens:
In der 3 ha großen, 2-geschossigen kommerziellen Plattform von Marina City finden sich eine Marina, in der die Boote mit einem Kran in eine Art „Regal“ heben, diverse Restaurants, ein Supermarkt, eine Vielzahl an Dienstleistungen und 45 Bowling-Bahnen.

“The theater, the restaurants, the offices, the parking, the retail, the recreational, the boating and, of course, the appartments – all were bound up and depended upon each other for a successful living cheek by jowl.“
– Bertrand Goldberg

Die Plattform wird horizontal von allen anderen Gebäudeteilen erschlossen. Der halböffentliche Raum folgt der Logik eines klassischen, römischen Forumkonzepts. Der zentrale Zugang ist in den Theaterbau integriert.
Das Theater mit seinem organischen, sattelförmigen Dach hatte ursprünglich einen Hauptsaal für über 1.500 Zuschauer. Ende der 1960er wurde er in ein TV-Studio umgewandelt. Die beiden kleineren Säle wurden zu Kinos umgenutzt.
Das 15-geschossige, rechteckige Bürogebäude sollte die Pendelwege innerhalb der Stadt minimieren. Goldbergs Vision war es, dass die Büroangestellten direkt in den Wohntürmen wohnen sollten. Dazu wurden bei Eröffnung den Büroangestellten großzügige Rabatte für die Freizeiteinrichtungen gewährt, um ihnen Marina City auch als Wohnstandort schmackhaft zu machen.
Doch zweifelsohne die wichtigsten Gebäude des Komplex’ sind die beiden 180 Meter hohen Wohntürme, die bei ihrer Fertigstellung die höchsten Wohngebäude der Welt und zugleich die höchsten Spannbetongebäude der Welt waren. Sie sind asymmetrisch auf der kommerziellen Plattform platziert, so dass ein Gegengewicht zur strengen Symmetrie der beiden Türme entsteht. Neben den konstruktiven Überlegungen (siehe oben), die zu den kreisrunden Türmen führten, waren es insbesondere Goldbergs Vorbehalte gegen die Wohnboxen des traditionellen sozialen Wohnungsbaus. Diese empfand er als deprimierend und psychologische Slums.
Um den Wohnraum bezahlbar zu machen, ist eine extrem hohe Dichte notwendig. Schließlich ist Marina City ursprünglich als Wohnort für Gewerkschaftsmitglieder geplant. Daher befinden sich in den beiden Türmen jeweils 256 1-Raumwohnungen, 576 1,5-Zimmerwohnungen und 64 2-Raumwohnungen. Jede Wohnung hatte mindestens einen eigenen Balkon mit vollverglaster Wohnungsaußenwand. Die Grundrisse waren extrem klein – schließlich war es sozialer Wohnungsbau. Ursprünglich waren alle Wohnungen Mietwohnungen – sie wurden allerdings 1977 zu Eigentum umgewandelt.

Die Vermarktung von Marina City suchte ebenfalls ihresgleichen. Goldberg lies für (damals sehr teure) $50.000 zwei Musterwohnungen samt Balkone bauen, die von einem 360°-Panoramafoto umspannt wurden, das eigens aus einem Helikopter in Höhe der 70. Etage geschossen wurde. Die mediale Aufmerksamkeit für das Projekt war weltweit immens.

Der Glaube, dass Marina City tatsächlich ein neues Kapitel der Stadtplanung aufschlagen könnte, war bei den Beteiligten intensiv ausgeprägt.

“I’d love to be among the first to find the formula for young people just married. The ideal place in the city. Because then I would prove all the experts wrong about the exodus the suburbs.“
– Charles Swibel, Marks & Co., Projektentwickler Marina City

Bis heute ist Marina City eine zeitlose Architekturikone. Goldberg blieb auch nach der Fertigstellung seinem sozialen Anspruch treu: So entstanden nach seinen Entwürfen weitere Projekte in Chicago, wie den Raymond Hillard Homes (1966) oder den River City Apartments (1986), die qualitativ hochwertigen, bezahlbaren Wohnraum schufen.

Marjanovics und Rüedls »Marina City – Betrand Goldberg’s Urban Vision« gibt einen umfassenden Überblick über die Entstehungsgeschichte von Marina City. Sehr anschaulich wird die Motivation von Goldberg und seinen Mitstreitern herausgearbeitet. Bis ins letzte Detail und mitunter auch etwas langatmig werden die Entwurfsschritte von Goldberg beschrieben. Auch das Kapitel zum Bauablauf ist sehr detailliert – zu detailliert. Mit einer extrem hohen Schlagzahl werden Namen von den am Bau beteiligten Firmen und Personen präsentiert, so dass zum Teil das Lesen schwerfällt. Allerdings überzeugt das Buch wieder bei der Analyse der Rezeption von Marina City, indem das sorgfältig von Goldberg inszenierte Image herausgearbeitet wird. Das 176 Seiten starke Buch hat eine Vielzahl an schönen historischen Fotografien und Planzeichnungen.
Marina City wird jeden architekturinteressierten Chicago-Besucher in ihren Bann ziehen. Doch dieses Buch ist auch für all jene empfehlenswert, die vielleicht noch nicht in Chicago waren, aber an der späten Nachkriegsmoderne interessiert sind. Denn Marina City ist von einem herausragenden internationalen Stellenwert für diese Architekturepoche.

Marina City: Bertrand Goldberg’s Urban Vision
Von Igor Marjanovic und Katerina Rüedi Ray
Princeton Architectural Press, 2010
ISBN 9781568988634
176 Seiten, viele s/w-Abbildungen, ca. 28 Euro