Cover_Entbehrliche

Abb. transcript-Verlag

In der jahrzehntelangen Geschichte sozialer Stadtteilentwicklung ist es ab und zu notwendig innezuhalten und zu überprüfen, wie das was konzipiert und umgesetzt wurde, vor Ort wirksam geworden ist. Nicht nur im Sinne einer Evaluation abstrakter Kennwerte, sondern vielmehr basierend auf den Geschichten und Erfahrungen derjenigen Menschen, die in den Blick genommen wurden. In allen Programmen der Städtebauförderung ist ja genau das das Neue und Spannende gewesen, dass versucht wurde, jenseits von Bauen und Infrastrukturinvestitionen, wieder diejenigen zuvorderst in den Blick zu nehmen, die vor Ort leben und arbeiten und durch ihr Alltagshandeln tagtäglich ihre Stadtteile gestalten. Hier fügt sich genau die Publikation aus dem Göttinger Institut für Demokratieforschung ein und versucht über die Frage „Wer organisiert die ‚Entbehrlichen‘?“ solche „Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter in benachteiligten Stadtteilen“ (so der Untertitel) näher zu beleuchten.

Die titelgebende Frage versucht dabei aber auch gleich Irritationen, ist man es doch nicht gewohnt, von ‚Entbehrlichen‘ zu sprechen, wenn es um Empowerment und sozialen Zusammenhalt in benachteiligten Stadtteilen gehen soll. Es ist aber das große Verdienst der Publikation, eben nicht auf altbewährten Kommunikationsmustern der Stadtteilarbeit zu beharren, sondern schon im Prolog und in der Beschreibung des Forschungsstands in einer klaren und deutlichen Sprache diejenigen Prozesse aufzuzeigen, die dazu führten, dass sich bestimmte Menschen schon jetzt außerhalb bestimmter Teilhabeprozesse (u.a. Wahlen, soziale und wirtschaftliche Prozesse) befinden. Damit verbunden steht in Folge dann die Frage im Raum, wie sich in einer sich ausdifferenzierenden (Stadt-)Gesellschaft auch diejenigen erreicht werden können, die weder über die Mittel noch die Möglichkeiten verfügen, ihre Stimme zu erheben. Letztendlich, und so stellt es Franz Walter im Prolog dar, ist dies nicht über die bestehenden Partizipationsinstrumente zu leisten, da diese durch die Form der Beteiligung eher bestehende Ungleichgewichte reproduzieren und eher denjenigen zusätzlichen Einfluss geben, die bereits jetzt über Kapitel, Einfluss und Stimme verfügen. Es muss eher, das ist der Ansatzpunkt der Publikation, der Blick auf diejenigen in den Stadtvierteln gerichtet werden, die als „bürgerschaftliche Vorbilder und zentrale Dreh- und Angelpunkte sozialer Hilfs- und Netzwerkstrukturen wirken“. Damit sind in der Regel nicht die politischen Würdenträger im Mittelpunkt, sondern eher „SporttrainerInnen GruppenleiterInnen örtlicher Jgendgruppen, religiöse AmtsträgerInnen, KioskbesitzerInnen oder ähnliche ‚zufällige MultiplikatorInnen‘ der Bürgergesellschaft“. Für die Studie wurden letztendlich drei Stadtviertel in drei niedersächsischen Großstädten ausgewählt, anhand derer anonymisierte Profile solcher Schlüsselpersonen erstellt wurden. Ohne in dieser Rezension genauer auf die Methodik der Suche und Analyse eingehen zu wollen, beeindruckt im Ergebnis die Vielfalt der dargestellten Lebensläufe und Zugänge und die daran anschließende Ableitung gemeinsamer Wesensmerkmale. Es ist, so ist es herauszulesen, trotz teilweise immenser Unterschiede in Bildungshintergrund, finanzieller Ausstattung und offizieller Funktionsübernahme, bestimmte Typen von ViertelgestalterInnen festzustellen sind, die sich sehr pragmatisch und in Rückbesinnung auf eine Idee guter Gemeinschaft für das Gemeinwohl einsetzen. Welche Handlungsempfehlungen daraus erwachsen, wird am Ende der Publikation auch kurz angerissen, fällt im Vergleich zur sehr guten Analyse der aktuellen Situation, der Darstellung der Profile und Gemeinsamkeiten aber etwas ab. Viele Ideen kann man bereits in anderen Studien zum Engagement vor Ort finden, zudem werden sie etwas zu oberflächlich adressiert („man sollte/müsste“). Eine Zuspitzung der Erkenntnisse auf weniger, dafür deutliche Handlungsempfehlungen hätte der Publikation in Summe gut getan (positive Ausnahmen sind die klare Benennung der Vorbildfunktion der in der Sozialarbeit, oder angrenzenden Bereichen, Tätigen oder die kritische Einordnung von Best Practice-Modellen).

Im Ergebnis bildet die Publikation aber einen spannenden Einblick in die Hintergründe und Motivation derjenigen Personen, die es auch heute noch als Selbstverständlichkeit ansehen, sich über die eigene Komfortzone hinaus zu engagieren und eben dort anfangen, wo andere (professionelle) Akteure nicht mehr zwangsläufig zu finden sind.

 

Wer organisiert die »Entbehrlichen«?:
Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter in benachteiligten Stadtquartieren
von Christoph Hoeft, Johanna Klatt, Annike Klimmeck, Julia Kopp, Sören Messinger, Jonas Rugenstein, Franz Walter

April 2014, 290 Seiten, 24,99 €
DEUTSCH
ISBN 978-3-8376-2731-2
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